Wie politisch soll Kirche sein?

In einem Interview zu Ostern hat Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) kritisiert, die Kirchen würden sich zu häufig zu tagesaktuellen Themen äußern. Statt sich "wie eine NGO" zu verhalten, sollten sie sich lieber auf die Seelsorge konzentrieren, so Klöckner. Über diese Kontroverse hinaus debattiert nach dem Tod des Papstes auch die internationale Presse, ob und wie die Kirchen politisch Stellung nehmen sollten.

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Der Tagesspiegel (DE) /

Schweigen wäre nicht im Sinne der Bibel

Für den Tagesspiegel müssen die Kirchen natürlich politisch sein:

„'Suchet der Stadt Bestes', ist den Kirchen seit jeher aufgetragen. Es sind die Worte eines Propheten, Jeremia, aus der Bibel. Und die ist politisch, ist im Ganzen auf den Tag bezogen, auf jeden einzelnen jedes Einzelnen. Steht nicht auch das Grundgesetz zu den Werten des christlichen Abendlandes? Äußern sich die Kirchen zur Umweltpolitik, ist es im Sinne des Auftrages, die Schöpfung zu bewahren. Äußern sie sich zur Migration, ist es im Sinne der Bibel, des Buches voller Geschichten von Flucht und Vertreibung. Unchristlich wäre, sich daran nicht zu erinnern noch sich entsprechend zu verhalten.“

Handelsblatt (DE) /

Das christliche Menschenbild ist politisch

Das Handelsblatt widerspricht Klöckner:

„Die Enttäuschung, die aus Klöckners Worten spricht, hat weniger mit Theologie als mit Parteipolitik zu tun. Dass sich führende Kirchenvertreter zuletzt kritisch zur Migrationspolitik von Friedrich Merz äußerten, scheint die Union schwer zu verdauen. Dabei wäre es Aufgabe gerade einer christlich geprägten Politik, sich dieser Kritik zu stellen – statt mit Maulkorb-Fantasien zu reagieren. Denn wer, wenn nicht die Kirchen, sollte sich zu Fragen von Menschlichkeit, Flucht, Gerechtigkeit äußern? ... Anders als Parteien können sie ihre Grundsätze nicht einfach anpassen, wenn der Wind sich dreht. Das christliche Menschenbild ist nicht verhandelbar. Es unterscheidet nicht zwischen Flüchtlingen erster und zweiter Klasse.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Bitte mehr theologischer Tiefgang

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wägt ab:

„Das Problem ist nicht, dass sich die Kirchen zu aktuellen politischen Fragen äußern, sondern was sie zu sagen haben – und wozu sie schweigen. Und hier fällt in der Tat auf, dass oft eher zeitgeistig-flache Stellungnahmen abgesondert werden: politische Reflexe statt theologischer Tiefgang. Gottes Wort hört man kaum heraus. Doch genau das wäre bitter nötig im Angesicht von Krieg, Flucht und Seuchen. Viele Geistliche leisten genau das – in weitgehend leeren Gemäuern, zu Hause, im Krankenhaus, im Gefängnis oder an der Front. Im Stillen und ohne Verstärker. Das ist Kirche. Sie muss sich äußern. Sie wird aber nicht als eine weitere politische Lobbygruppe Bestand haben – sondern nur durch Besinnung auf ihre eigentliche Aufgabe.“

Kauno diena (LT) /

Franziskus steckte den Kopf in den Sand

Für Kauno diena war der verstorbene Papst zu wenig politisch:

„Franziskus entschied sich, nur Jünger Christi sein zu wollen, und lehnte die Rolle eines der einflussreichsten Männer der Welt ab. Dieser Zwiespalt zeigte sich in seiner beruhigenden Urbi-et-Orbi-Osterbotschaft zu Beginn der Pandemie ebenso wie in seiner neutralen Haltung gegenüber der russischen Aggression. Der Papst konnte seinen linken Idealismus nicht überwinden und leitete keine der im Westen erwarteten Reformen ein. ... Seinem Nachfolger hinterlässt er eine Gemeinde, in der der Riss zwischen einer modernen Welt, die andere Götter sucht, und der wachsenden Schar gläubiger Christen aus Afrika und Asien, die im traditionellen Katholizismus Zuflucht suchen, immer deutlicher wird.“

La Stampa (IT) /

Dagegensein als Aufgabe

La Stampa wendet sich gegen Vorwürfe, der verstorbene Papst sei dem Westen nicht wohlgesonnen gewesen:

„War Franziskus, der Papst der Mühsal, des Schmerzes und des Leids, ein Feind des freien, reichen und konsumorientierten Westens? Wie seltsam dieser klebrige Schatten, den Bergoglio seit Beginn seines Pontifikats mit sich herumträgt, in einer Welt, die in einem Strudel aus falschen und leeren Worten versinkt. Dieses Dagegensein wird ihm von vielen vorgeworfen. Als ob es nicht gerade die Aufgabe der Kirche wäre, dagegen zu sein, hartnäckig und permanent dagegen zu sein; und nicht vor der Welt zu knien. ... Aber die Frage stellt sich noch vehementer: Wo ist dieser vermeintlich helle Westen?“

The Guardian (GB) /

Mahnertum unbedingt beibehalten

Auch der neue Papst sollte gegen Nationalismus und Autoritarismus auftreten, fordert The Guardian:

„Franziskus wirkte mitunter isoliert, als er sich gegen neue autoritäre Strömungen in der westlichen Politik stellte. Er beklagte den Aufstieg aggressiver Nationalismen und die Erosion demokratischer Normen und wurde so zu einem einsamen, aber wichtigen Bollwerk des Widerstands im Namen universeller Rechte und Werte. Progressive Kräfte innerhalb und außerhalb der Kirche müssen hoffen, dass der nächste Pontifex in einer instabilen und gefährlich unbeständigen Zeit auf diesem Vermächtnis aufbauen kann.“