Überwindet Spanien den politischen Stillstand?
Die Spanier haben seit mittlerweile neun Monaten nur eine verwaltende Regierung und werden im Dezember zum dritten Mal innerhalb eines Jahres wählen. Die Parteien haben diese Lähmung auch mit ihrer unnachgiebigen Haltung in der Katalonien-Frage herbeigeführt, kritisieren Kommentatoren.
Madrids Regierung steht und fällt in Barcelona
Die Konservativen und die liberale Ciudadanos sind strikt gegen eine Abspaltung Kataloniens. Die Sozialisten wollen einen Mittelweg und der Region mehr Eigenständigkeit zugestehen, die linke Podemos hat selbst Separatisten in ihren Reihen. Das macht die katalanische Frage zu einer Schlüsselfrage für Spanien, erläutert La Vanguardia:
„Wir hätten bereits eine Regierung, wenn nicht so viele Brücken eingerissen worden wären. Spanien wäre nicht blockiert, wenn Madrid nicht auf stures Schweigen [gegenüber Katalonien] gesetzt hätte. Der 11. September 2016 leitet [mit den Demonstrationen für katalanische Unabhängigkeit] somit einen komplizierten Prozess ein, der nur zum Erfolg führen kann, wenn Brücken in alle Richtungen wieder aufgebaut werden. Dass alle Beteiligten müde sind, ist ein Anzeichen dafür, dass die Strategie des frontalen Zusammenstoßes ausgedient hat. Es gibt in Katalonien keine Mehrheit für eine einseitig erklärte Abspaltung - wie das Votum am 27. September gezeigt hat. Und es gibt in Spanien keine Mehrheit für eine starrköpfige Regierung.“
Niemand will in Madrid regieren
An der Lähmung der spanischen Politik sind die beiden großen Parteien PP und PSOE Schuld, ärgert sich La Vanguardia:
„Den Stillstand, den Spanien seit dem 20. Dezember 2015 erlebt, kann man nicht mehr nur einer einzigen Partei anlasten. Das wäre unglaubwürdig. Natürlich hat [der PSOE-Vorsitzende] Pedro Sánchez gestern Brücken eingerissen und die Dinge noch schwieriger gemacht. Sei es aus politischer Kohärenz, wie er sagt, oder aus Groll gegen Rajoy, wie andere behaupten. Aber es stimmt auch, dass die PP nicht ausreichend um weiteren Rückhalt gekämpft hat. ... Man könnte sagen, dass weder die PP noch die PSOE dem Ziel besondere Dringlichkeit beimessen, das für die Mehrheit der Spanier höchste Priorität hat: dem Land eine vollwertige Regierung zu geben, die das Land anständig führen kann und dafür auch vor dem Parlament gerade steht.“
Spanien funktioniert auch ohne Regierung
Spanien regiert sich derzeit selbst - und das gar nicht schlecht, findet die Politologin Nadia Urbinati in La Repubblica:
„Vor wenigen Jahren gelang es Belgien, für anderthalb Jahre bestens ohne eine Regierung auszukommen. Eine ähnliche Situation zeichnet sich heute in Spanien ab. Die Zivilgesellschaft scheint gut zurechtzukommen auch ohne Regierung und mit der Aussicht auf einen neuen Wahlgang, der - so hofft man - das Land aus der Pattsituation befreit. Die politischen Diskussionen über die Notwendigkeit starker Regierungen verlaufen parallel zu solch seltenen Entwicklungen, in denen sich die Idee eines Apparats durchzusetzen scheint, der sich auf allgemeingültige Normen stützt. Dieser ist in der Lage, die Gesellschaft mit weniger willkürlichen Geboten zusammenzuhalten als jenen, die die Politik uns auferlegt, die sich vornehmlich nach der Wählergunst und den Verhandlungen der Parteien untereinander richten. Voraussetzung ist natürlich eine Gesellschaft, die geschlossen und kohärent genug ist.“
Strategie des Nichtstuns wird nicht aufgehen
Politische Erneuerung, Kampf gegen die Korruption, Änderung des Wahlrechts. Das sind einige der Bedingungen, die die Newcomer-Partei Ciudadanos gestellt hat, um Mariano Rajoy zum Premier zu machen. Letztlich wird dieser nachgeben müssen, glaubt El Periódico de Catalunya:
„Rajoy hat sich bei seinem frustrierenden Auftritt gestern wieder an die Strategie gehalten, die er seit dem 20. Dezember verfolgt: Die anderen Parteien zum Aufgeben aus Erschöpfung zu zwingen und so mit minimalem Aufwand wieder Premier werden - ohne ernsthafte Absichten, die dringend nötigen politischen Veränderungen einzuleiten oder seine Partei zu erneuern, in der die Korruption Ausmaße angenommen hat, die in einer Demokratie untragbar sind. ... Es scheint keinen Ausweg zu geben, doch am Ende ist ein Pakt wohl unvermeidbar. Denn die Alternative, die dritten Wahlen innerhalb eines Jahres, käme einem Schritt in den Abgrund gleich.“
Eine dritte Wahl ist einfach nicht drin
Die monatelange Regierungskrise trifft Spanien zur Unzeit, meint Upsala Nya Tidning:
„Nicht nur die Konjunktur schwächelt im führungslosen Spanien. Katalonien macht neue Schritte in Richtung Unabhängigkeit. Die Mehrheit im katalanischen Parlament hat neulich für eine eigene Verfassung neben der spanischen gestimmt. Gleichzeitig arbeitet man daran, eine eigene Notenbank und andere nationale Institutionen zu schaffen. Bis zum Frühjahr soll das alles fertig sein, und dann will man ein Referendum abhalten, egal was die Zentralregierung meint. ... Kataloniens Ministerpräsident Carles Puigdemont hat Mariano Rajoy im April kurz getroffen. Seitdem gab es keinen Kontakt. Um echte Unruhen in Spanien zu vermeiden - was nicht geschehen darf, da sind sich alle einig - muss Rajoy aufhören, beleidigt zu sein und sich an die Arbeit machen. Eine dritte Wahl ist für Spanien einfach nicht drin.“
Weitere Wahl wäre unerträglich
Spanien hat die politischen Umwälzungen der letzten Zeit noch nicht verarbeitet, kommentiert Journalist Jorge Almeida Fernandes bei Público:
„Spanien hat nun seit sieben Monaten keine Regierung mehr und viele prophezeien bereits, dass dieser Zustand bis November oder Januar (mögliche Termine für einen dritten Urnengang) andauern könnte. ... In Spanien hat der Übergang von einem Zweiparteiensystem in eine Realität, in der auf einmal vier Parteien mitmischen, noch keine neuen Regeln geschaffen, mit denen Kompromisse erzielt werden können. Ganz im Gegenteil: Wir erleben ein Spiel der sich durchkreuzenden Vetos, das die Lösungsfindung stark beeinträchtigt. In der letzten Legislaturperiode war die Wahlwiederholung die einzige Lösung. Ein dritter Urnengang ist politisch unerträglich - aber eben nicht unvermeidlich.“
Konsens ist eine Frage des Willens
Das Land kommt auch ohne Regierung klar, bemerkt erstaunt die Wirtschaftszeitung Cinco Días - fragt sich allerdings, wie lange noch:
„Sage und schreibe 2.555 Menschen haben in dieser Zeit täglich eine Arbeit gefunden, während die Parteien sich seit Januar nicht auf eine Regierung einigen können, und sich auch immer weniger zu bemühen scheinen. Das Land der politischen Funktionäre kehrt dem Land des Funktionierens den Rücken zu. Während das offizielle Land seine Aufgaben nicht erledigt hat, denn nur mit Worten und Absichtserklärungen kommt man nicht weiter, haben die Firmen und alle Akteure der Wirtschaft ihren Teil dazu beigetragen, dass alles läuft. ... Doch wenn die politische Krise andauert, und das scheint der Fall zu sein, kann der Wirtschaftsaufschwung nachlassen. Niemand versteht die Konsensunfähigkeit der Parteien. Jeder weiß, dass es keine Einigung gibt, weil niemand sie anstrebt. Nur wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“