Ist London unvorbereitet auf den Brexit?
Mit scharfer Kritik an seiner Regierung hat sich der ständige Vertreter Großbritanniens bei der EU, Sir Ivan Rogers, aus seinem Amt verabschiedet. In einer Mail an seine Mitarbeiter warf er London mangelnde Verhandlungsexpertise vor. Offiziell war er zurückgetreten, damit sein Nachfolger noch vor den Austrittsverhandlungen ins Amt eingeführt werden kann. Für Beobachter offenbart der Rücktritt des Diplomaten die vielen Schwächen des Brexit-Lagers.
Überbringer schlechter Nachrichten geköpft
Rogers ist Opfer der Realitätsverweigerung des Brexit-Lagers geworden, analysiert The Irish Times:
„Mays Problem ist, dass sich ihre Minister und die Brexit-Befürworter noch nicht über die Wahlkampf-Rhetorik und deren Illusionen hinaus bewegt haben. Sie sind noch nicht bei der harten Sachlichkeit des Verhandlungsmodus angekommen. Denn worauf es jetzt ankommt, ist, was erreicht werden kann und nicht, was erreicht werden möchte. Wir verharren noch immer in einem Modus, wo man den Überbringer schlechter Nachrichten köpft, statt seine Nachrichten zu lesen und zu verstehen. Rogers' Rücktritt ist eine gravierende selbstverschuldete Wunde, die selbst Brexit-Befürworter bereuen werden, während sie verzweifelt nach einem Ersatz suchen.“
Niedergang der ältesten Demokratie der Welt
Der Rücktritt des EU-Botschafters zeigt nach Auffassung des Handelsblatts, wie schlecht es um die Regierung in London bestellt ist:
„Sir Ivan Rogers gilt als ein versierter EU-Kenner mit einem dichten Netzwerk von Kontakten in den Brüsseler Institutionen und auf dem ganzen Kontinent. Trotz jahrelanger aggressiver antieuropäischer Kampagnen in seiner Heimat und sogar nach dem Brexit-Votum vom 23. Juni gelang es ihm, im Dienste Ihrer Majestät gute Beziehungen zum Rest der EU aufrechtzuerhalten. Mit seinem Abgang verliert das Vereinigte Königreich daher einen wichtigen Brückenbauer in Brüssel. Die Regierung in London war darauf offenkundig noch nicht einmal vorbereitet. Einen Nachfolger konnte sie jedenfalls zunächst nicht präsentieren. Unorganisiert, uneins und im Unfrieden mit führenden EU-Experten im eigenen Haus: Die älteste Demokratie der Welt verliert mehr und mehr an Glanz.“
Niemand hat sich den Brexit genau überlegt
Dass sie den Brexit amateurhaft angeht, wirft auch Dagens Nyheter der Regierung vor:
„Das Problem ist, dass der Brexit sehr komplex ist, was das Vorgehen und die Politik betrifft. Mehr als 40 Jahre gemeinsamer Vorhaben, Gesetze und Regeln müssen gesichtet werden. Wie sollen etwa die 2,8 Millionen EU-Bürger die in Großbritannien leben, behandelt werden, oder die 1,2 Millionen Briten, die in anderen EU-Ländern leben? Oder deren Kinder? Fest steht zudem, dass Standpunkte, die London als klug betrachtet, in der übrigen EU überhaupt nicht als Gipfel der Weisheit angesehen werden. Die Brexit-Befürworter haben vor der Volksabstimmung so getan, als ob man frei aus dem Menü wählen könne, alle Vorteile der EU-Mitgliedschaft nutzen und alles wegwerfen, was man nicht mag. So ähnlich sieht es auch die Regierung, aber das werden die übrigen 27 Mitgliedsländer nicht akzeptieren.“
Londons Realitätsverweigerung schadet EU
Der Dilettantismus der Londoner Regierung in Sachen Brexit droht die ganze EU zu treffen, fürchtet Die Presse:
„Es mag zum politischen Spiel gehört haben, dass vom Pro-Brexit-Lager im Referendumswahlkampf allein die Vorteile des Alleingangs thematisiert wurden. Doch heute wäre es an der Zeit, die Komplexität der rechtlichen und wirtschaftlichen Vernetzung der Insel mit den EU-Partnerländern offen zu diskutieren. Vom Warenhandel über Finanzdienstleistungen bis hin zur Kooperation der Universitäten ist Großbritannien fest in diese Gemeinschaft eingebunden. Das Herausreißen wird nicht nur Zeit, sondern auch Opfer kosten. ... Geht die Regierung unter Theresa May weiterhin so dilettantisch mit dem Brexit um, wird die gesamte EU daran leiden. Es gibt starke Interessen an einer weiterhin guten, lebendigen Partnerschaft mit London. Doch dafür braucht es einen Plan, Kompromissbereitschaft und vor allem Realitätssinn.“
Stolperstein für Mays Brexit-Pläne
Der überraschende Rücktritt des höchsten britischen EU-Botschafters, Sir Ivan Rogers, schwächt Großbritanniens Position in den EU-Austrittsverhandlungen und ist ein herber Rückschlag für Theresa Mays Brexit-Strategie, urteilt der Guardian:
„Rogers wurde weithin als Mann mit den richtigen Erfahrungen und dem nötigen Feingespür und Grips angesehen, um das britische Schiff beim Verlassen des europäischen Hafens durch die Untiefen und Stromschnellen der Kontinentalpolitik zu lenken. Dass Sir Ivan nun seinen Posten vorzeitig räumt, hat Theresa May bei ihren Brexit-Plänen wohl kaum geholfen. … Skurrilerweise wird uns die Ernennung von Ivans Nachfolger mehr über die Richtung der britischen Politik, Diplomatie und des Handels mit der EU verraten, als Mays bisheriges Gemurmel. … Die Botschaft, die Downing Street mit der Ernennung von Großbritanniens Vertreter in Brüssel senden wird, ist entscheidend: nicht nur für Whitehall [britische Regierung], sondern auch für den Rest Europas.“
Chance auf frischen Wind
Für den Beginn der EU-Austrittsverhandlungen im Frühjahr ist ein Brexit-Befürworter im Amt besser positioniert als der pro-europäische Ivan Rogers, argumentiert der Daily Telegraph und begrüßt Rogers Rücktritt:
„Er ist von der Kultur einer Institution durchdrungen, aus der sich das Land zurückziehen möchte. ... Natürlich kennt er sich in Brüssel besser aus als die meisten. Aber während das vielleicht im Fall eines Verbleibs in der EU nützlich gewesen wäre, ist das nun, da wir uns für einen EU-Austritt entschieden haben, weniger wichtig. Als ultimativer Insider war Sir Ivan jahrzehntelang dem Brüsseler Gruppendenken ausgesetzt, das davon ausgeht, dass Großbritannien (a) verrückt ist und (b) leiden soll, weil es die Frechheit besitzt, sein demokratisches Recht vom EU-Austritt in Anspruch zu nehmen. ... Der Brexit wird viel zu sehr von einer Atmosphäre des Trübsinns umgegeben. Theresa May kann dem Abhilfe verschaffen, indem sie einen Nachfolger nach Brüssel schickt, der sich für Großbritannien und dessen hervorragende Zukunftsperspektiven außerhalb der EU stark macht.“