Wie weiter in Polen nach der Tusk-Wahl?
Nach der Wiederwahl von Donald Tusk zum EU-Ratspräsidenten gegen den Widerstand Polens fragen sich Kommentatoren, welche Konsequenzen der Eklat für das Land hat. Während einige bedauern, dass Polens Opposition kein Kapital aus der PiS-Niederlage schlagen kann, sind andere richtig sauer auf Warschau.
Opposition nutzt Gunst der Stunde nicht
Leider ist die polnische Opposition zu schwach, um die Steilvorlage zu nutzen, die ihr die PiS geliefert hat, bedauert die Journalistin Renata Grochal in Newsweek Polska:
„Die Opposition hat von der PiS gerade ein Geschenk bekommen. Die Wiederwahl von Donald Tusk zum EU-Ratspräsidenten und die Tatsache, dass der PiS-Kandidat Saryusz-Wolski überhaupt keine Chance hatte, sollte ihr eigentlich politischen Rückenwind geben. ... Doch weiß die Opposition einfach nicht, wie sie dies den Wählern erklären soll. ... Die Gefahr, dass Polen unter Führung der PiS innerhalb der EU weiter an den Rand gedrängt wird, ist allerdings weiterhin real. Denn die polnische Regierung sucht diese Isolation mit Absicht. Dies könnte vielleicht ein neues Thema sein, aus dem die Opposition Kapital schlägt.“
EU muss mit östlichen Mitgliedsländern abrechnen
Regelrecht erbost über Warschaus Verhalten ist La Repubblica und sieht die EU an einem Wendepunkt angelangt:
„Denn die Abrechnung mit den vornehmlich östlichen Ländern, die seit geraumer Zeit jeden Versuch boykottieren, den kontinentalen Integrationsprozess voranzutreiben, ist jetzt unvermeidbar. Der schöne Traum von einem Europa, das alle vereint, ist leider zu einem Alptraum geworden. Es gilt, so rasch wie möglich aus ihm zu erwachen, auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren und einzusehen, dass die Rettung des Projekts der Einheit heute nur noch über den Verlust einiger Weggefährten geht. Der 'Bankomat' von Brüssel kann nicht länger demjenigen zur Verfügung stehen, der den Prozess der überstaatlichen Integration nicht teilt. ... Ja, im Gegenteil sich auch noch einbildet, die Union ungestraft verunglimpfen zu dürfen mit einer Innenpolitik, die zunehmend faschistische Züge annimmt.“
Warschau könnte sich noch bitter rächen
Sowohl für Polen als auch für die Europäische Union wird der Eklat noch weitreichende Folgen haben, fürchtet die Welt:
„Sie wird die polnische Gesellschaft weiter spalten. Sie wird neuen Raum schaffen für antieuropäische Ressentiments und es dem starken Mann, Jarosław Kaczyński, ermöglichen, seine Anti-EU-Kampagne zu intensivieren. ... Es muss die unerhörte Frage erlaubt sein, ob die Wiederwahl eines mittelmäßigen Ratspräsidenten wie Tusk das wert ist. Polen ist von enormer Bedeutung fürs europäische Miteinander. Und Warschau hat Mittel, die Europäische Union unter Druck zu setzen - als Vetomacht. Der Aufbau der Verteidigungsunion oder die Brexit-Verhandlungen erfordern weitgehend einstimmige Entscheidungen. 21.000 EU-Regeln müssen allein bei den Austrittsgesprächen mit London beraten werden. Das bietet Kaczyński Raum, alte Rechnungen zu begleichen.“
PiS wird das Land in den Abgrund reißen
Ein noch düstereres Zukunftsszenario zeichnet Adam Szostkiewicz auf seinem Blog bei Polityka:
„Polen wird den Imageschaden, den es durch die PiS erleiden musste, nicht mehr wettmachen. Es wird sich innerhalb der EU in der politischen Bedeutungslosigkeit befinden. Die PiS wird die Propaganda gegen die Gemeinschaft verstärken und den Polexit vorbereiten. Den Bauern zahlt sie dann eine Entschädigung für die EU-Mittel, die ihnen ja dann nicht mehr zustehen, und ruiniert damit die öffentlichen Finanzen. Vielleicht beginnt sie anschließend, die privaten Ersparnisse auf den Bankkonten zu besteuern. Die Proteste werden in Massen kommen und immer stärker werden. Und die Vertreter der Opposition werden inhaftiert. Die Unabhängigkeit der Gerichte wird ausgesetzt. ... Die Medien, welche die PiS nicht kontrolliert, werden geschlossen.“
Tusk-Wahl ist Orbán hoch anzurechnen
Ungarns Regierungschef Orbán, der enge Bande zu Kaczyński und der PiS pflegt, hat gut daran getan, sich nicht in den Sumpf der polnischen Innenpolitik hineinziehen zu lassen, meint Heti Válasz:
„Das Abstimmungsergebnis von 27:1 bedeutet, dass auch Ungarn Donald Tusk das Vertrauen ausgesprochen hat. Dies ist insofern ein logischer Schritt, als Tusk der einzige Kandidat der EVP war, deren Mitglied auch die ungarische Regierungspartei Fidesz ist. Obwohl Kaczyński und die PiS von Orbán, ihrem engsten Verbündeten und Gesinnungsgenossen, erwartet hatten, er werde gegen Tusk stimmen, ließ sich der ungarische Premier nicht beirren, was völlig richtig war. ... 'Die diesbezüglichen Debatten überlassen wir den Polen', bekräftigte Orbán im Vorfeld der Abstimmung. Dem Premier ist hoch anzurechnen, dass er standhaft blieb: Kaczyński und die PiS wollten ein innenpolitisches Geplänkel auf EU-Ebene heben. Ganz zu schweigen davon, dass Tusk bislang gute Arbeit geleistet hat.“
Schallende Ohrfeige für die PiS
Die Wiederwahl Tusks ist eine peinliche Niederlage für Polens national-konservative Regierungspartei PiS, konstatiert Gazeta Wyborcza:
„Dies ist nicht nur eine Niederlage für die Regierung, sondern auch der Beginn eines neuen Kapitels zwischen Brüssel und den EU-Partnern. ... Der polnischen Regierung ging es mit ihrem Schachzug allein darum, Tusk loszuwerden, und nicht um die Nominierung eines besseren Kandidaten. Deshalb ist der Vorfall eine diplomatische Katastrophe ... Anstelle von Diplomatie, die Geschick, Kontakte und Kompromisse erfordert, wollte Warschau eine Taktik anwenden, die im Sejm üblich ist: den Gegner in die Knie zu zwingen. Doch dabei hat man sich verrechnet. Daran sollten wir uns erinnern, wenn wir jetzt wieder die Propaganda hören, dass die polnische Souveränität vergewaltigt worden ist und die Stärkeren etwas diktiert haben.“
Absolut vorhersehbare Blamage
Mit ihrem Versuch, Tusks Wiederwahl zu verhindern, ist die polnische Regierung auch an ihrer eigenen Unfähigkeit gescheitert, analysiert die Neue Zürcher Zeitung:
„Nicht einmal Ungarn und Grossbritannien - Länder, die Polen als seine engsten Verbündeten betrachtet - konnten die Vorwürfe nachvollziehen. Viktor Orbán und Theresa May entsagten dem von Polen nominierten Gegenkandidaten Jacek Saryusz-Wolski ihre Unterstützung und machten so Warschaus Niederlage zu einer Ohrfeige. Diese Blamage war allerdings vorhersehbar. Im Willen, Tusk zu stürzen, liess Warschau nicht nur jede gesamteuropäische Perspektive vermissen. Es fehlte auch an einer ernsthaften Vorbereitung und einer überzeugenden Alternative. Saryusz-Wolski ist ein respektierter Europaabgeordneter, doch für das Amt des Ratspräsidenten so offensichtlich ungeeignet, dass er nicht einmal ansatzweise eine Debatte auszulösen vermochte. Dies obwohl eine Bestätigung Tusks aufgrund der parteipolitischen Verteilung der EU-Spitzenposten noch vor einigen Wochen keineswegs als Formsache galt.“
Polen reißt Brücken ein
Die versuchte Erpressung im Fall Tusk wird Polen langfristig nichts bringen, prognostiziert Delo:
„Polen, das nicht ernsthaft über eine Verteilung der Last im Kampf gegen die Flüchtlingskrise diskutieren möchte, reißt - so warnte Donald Tusk nach seiner Wiederwahl - mit seinem Handeln Brücken ab, die es vielleicht noch brauchen wird. Auch in der Debatte über die Zukunft der Europäischen Union, bei der ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten favorisiert wird, zeigt sich deutlich, warum Sturheit oder Nationalismus in einem der Mitgliedsländer nicht alle anderen bremsen werden, die mehr von Europa haben möchten. Sobald die Verantwortlichen in Polen feststellen, dass sie einen Fehler gemacht haben, müssen sie die abgerissenen Brücken wieder aufbauen.“
EU macht Riesenschritt nach vorn
Der 9. März wird als Meilenstein in die Geschichte Europas eingehen, jubelt der Tagesspiegel:
„Als der Tag, an dem die EU sich auf ihre Handlungsfähigkeit besann. Jarosław Kaczyński sei Dank! Donald Trump sei Dank! Polens starker Mann und der US-Präsident halten beide nicht viel von der EU. Aber sie haben, jeder auf seine Weise, dazu beigetragen, dass Europa einen Riesenschritt nach vorne macht. Die EU ändert ihr Erfolgsrezept. Sie setzt auf Mehrheitsentscheidungen, selbst wenn es richtig kracht. ... Am Donnerstag ist Historisches geschehen. Der Streit wurde ausgetragen. Ein Land, das die anderen aus innenpolitischen Gründen, die nichts mit dem gemeinsamen europäischen Interesse zu tun haben, erpressen wollte, erlitt eine öffentliche Niederlage. In diesem Fall war es Polen. Auch andere werden sich die Lektion merken.“