Zoff um Gibraltar
Der Streit zwischen Spanien und Großbritannien um die britische Exklave Gibraltar geht weiter. Ein spanisches Marineschiff fuhr am Dienstag durch Gewässer vor deren Küste - die Regierung von Gibraltar reagierte empört. Der britische Ex-Tory-Chef Michael Howard hatte zuvor gesagt, dass sich Großbritannien so entschlossen zeigen könnte, wie einst im Streit um die Falkland-Inseln. Warum streiten Madrid und London um den Felsen?
Weitere Territorialstreits warten im Giftschrank
Mit seinem Anspruch auf Gibraltar hat Spanien die Büchse der Pandora geöffnet, konstatiert Observador:
„Merkwürdigerweise hat sich Spanien dafür entschieden, das 'Skelett Gibraltar' aus dem Schrank der Geschichte zu holen, wo das Land selbst mehrere territoriale Streitigkeiten stehen hat: Diese umfassen die spanischen Enklaven von Ceuta und Melilla und kleinere Orte, darunter fünf Inseln und zwei Felsbrocken. Und natürlich den Dauerstreitfall mit Portugal namens 'Olivença' [ein 453 Quadratkilometer großes Gebiet an der portugiesisch-spanischen Grenze, welches vor 200 Jahren noch zu Portugal gehörte und das Lissabon weiterhin beansprucht]. ... Die spanische Haltung zu Gibraltar versetzt Portugal in eine schwierige Lage. Falls wir diesen Anspruch akzeptieren, dann bedeutet dies, dass wir in Bezug auf umstrittene Gebiete mit zweierlei Maß messen. Warum sollten wir den Anspruch auf Olivença sein lassen, wenn Spanien Gibraltar wieder aufleben lässt?“
Londoner Ablenkmanöver
Die britische Regierung will mit dem Streit um Gibraltar von wichtigeren Themen ablenken, erklärt der Politologe Valentin Naumescu auf Contributors:
„Theresa May und die Konservativen wollen den Felsen im Thatcher-Stil der 1980er Jahre innenpolitisch ausschlachten (damals ging es um die Verteidigung der Souveränität Großbritanniens über die Falkland-Inseln in den angespannten Beziehungen mit Argentinien). May will mit dem Streit die Aufmerksamkeit der britischen Öffentlichkeit weg von Unannehmlichkeiten lenken, die mit dem Austritt aus der EU wirklich anstehen. Natürlich wird es jetzt nicht zum Krieg kommen wie 1982 zum Falklandkrieg. Mein Eindruck ist, dass die augenscheinliche Entschlossenheit mit der London im Fall Gibraltar vorgeht, die Verletzbarkeit des Königreiches beim Thema Integrität kaschieren soll und beim realen Risiko, Schottland zu verlieren.“
Europas Nationalismen erwachen
Bestürzt darüber, dass sich an Gibraltar ein Streit zwischen zwei EU-Mitgliedern entzündet, zeigt sich Público:
„Eine Warnung, die sich auf Handelsverhandlungen bezog, hat ausgereicht, dass wir verschleierte Kriegsdrohungen hören, die sich gegen ein EU-Mitglied richten. Gibraltar ist nicht mehr als ein Felsbrocken mit Affen, wo zufällig 30.000 Menschen leben - und wo außerdem ein für Großbritannien interessantes Finanzzentrum funktioniert. Doch die Unsicherheit hinsichtlich Gibraltars Zukunft war ausreichend, um alte Probleme zu beleben. Europas Nationalismen sind dabei, zu erwachen - doch dafür müssen sie zuerst das EU-Projekt zerstören. Vielleicht wäre es an diesem Punkt gut, daran zu erinnern, dass als Nächstes Kriege und territoriale Streitigkeiten folgen könnten, die die Geschichte des Kontinents über Jahrhunderte geprägt haben. Und die nur die EU stoppen konnte.“
Problemlösung statt Säbelrasseln
Anstatt den Streit um Gibraltar immer weiter auf die Spitze zu treiben, sollten sich Madrid und London den praktischen Problemen der Bevölkerung zuwenden, fordert El País:
„Selbst Premierministerin Theresa May fand das gespenstische Säbelrasseln und das übertriebene Verschwörungsgemurmel lachhaft. … Die Regierung Rajoy reagierte vernünftig, indem sie der Versuchung einer sinnlosen Konfrontation um die Souveränität über Gibraltar widerstand. Alle Spanier sollten diesen Aspekt vorerst ausblenden (ohne dabei auf Ansprüche zu verzichten), und sich stattdessen bemühen, konkrete Probleme zu lösen, die mit Gibraltar zusammenhängen. Für die Menschen in Gibraltar und im benachbarten Andalusien ist es von großer Bedeutung, die Bedingungen für den Grenzverkehr und die Arbeitnehmer zu verbessern, die Konjunktur anzukurbeln, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen, den Tabak- und Rauschgiftschmuggel zu unterbinden sowie gegen die Kapitalflucht vorzugehen.“
Wirre Drohungen aus London
Für völlig überzogen hält La Vanguardia die Reaktionen aus London:
„Es folgte eine Salve von Erklärungen, die eher zu einer Monty-Python-Komödie passen als zu Politikern der Konservativen. Den Vogel schoss dabei der ehemalige Tories-Chef Michael Howard mit seiner Drohung ab: 'Vor 35 Jahren schickte eine andere Premierministerin ihre Truppen um die halbe Welt, um die Freiheit einer anderen Gruppe von Briten gegen eine andere spanischsprachige Nation zu verteidigen.' Howards Hausarzt sollte ihm andere Pillen verschreiben, die aktuelle Medikation scheint ihn zu verwirren. Denn damals marschierte das argentinische Militärregime auf den Malwinen [Falklandinseln] ein, während die spanische Regierung nun lediglich daran erinnerte, dass Gibraltar nach dem Brexit nicht mehr unter der Schutzherrschaft eines EU-Mitglieds steht und deswegen jegliche Abkommen mit Spanien abgestimmt werden müssen.“
Howards Spitze illustriert den Nutzen der EU
Dass Howards Worte auch einen gewissen Nutzen haben, findet La Libre Belgique:
„So unrealistisch das von ihm vorgebrachte Szenario auch sein mag, es ist verblüffend zu hören, dass ein Führungspolitiker eines EU-Mitgliedstaats (was Großbritannien ja noch ist) in Erwägung zieht, gegenüber einem anderen Mitgliedstaat Gewalt anzuwenden. Michael Howard repräsentiert kaum mehr als sich selbst. Seine Äußerung richtet sich jedoch an die niederen Instinkte, unter anderem an die der britischen Tabloids, die sich auf Befragungen von Experten gestürzt haben, um von ihnen zu erfahren, welche Chancen die Royal Navy gegen die spanische Marine habe. Zumindest einen Verdienst haben Howards Worte: Auf absurde Weise rufen sie in Erinnerung, dass die Europäische Union - trotz aller Konstruktionsfehler und innerer Spannungen - seit sechs Jahrzehnten als Garantin für Frieden zwischen den ihr angehörenden Staaten fungiert.“
Madrid will London ärgern
Es geht Spanien weniger um Gibraltar als darum, London die Brexit-Verhandlungen so schwer wie möglich zu machen, glaubt La Stampa:
„London argumentiert, der Brexit gilt für alle und verspricht, die Regierung von Gibraltar wird in den Entscheidungsprozess einbezogen oder zumindest befragt werden. Dabei ist aber klar, dass Spanien der europäische Stachel im britischen Fleisch ist. Abgesehen von dem Streit um Gibraltar hat Madrid eine für die Briten noch schmerzhaftere Wunde aufgerissen: die Zukunft Schottlands. Madrid unterstützt zwar nicht Sturgeons Referendum für die Unabhängigkeit – denn das könnte die Katalanen anstacheln, es den Schotten gleich zu tun. Doch sollte Schottland sich lossagen, dann wird es sicher nicht Spanien sein, das mit einem Veto den EU-Beitritt von Edinburgh blockiert. Noch vor zwei Jahren hatte Mariano Rajoy, damals wie heute spanischer Premier, die schottische Unabhängigkeit als eine Katastrophe bezeichnet, die zum Zerfall der EU führen würde.“
Seltsame Obsession der Spanier
Dass Madrid immer noch Anspruch auf den Felsen erhebt, obwohl dort fast niemand zu Spanien gehören will, stellt Kolumnist Charles Moore in The Daily Telegraph vor ein Rätsel:
„Als die Gibraltarer zuletzt [bei einem Referendum 2002] befragt wurden, stimmten 17.900 Bürger dafür, britisch zu bleiben. Nur 187 votierten für einen Wechsel. ... Warum also will Spanien ein Stück Land an sich reißen, in dem sich das praktisch kein Einwohner wünscht? Das Gleiche gilt für Argentiniens Ansprüche auf die Falkland-Inseln. Wir Briten mögen viele dunkle Kapitel in unserer Geschichte als Kolonialmacht haben. Doch ich kann mich an keinen einzigen Versuch in der jüngeren Geschichte erinnern, ein Gebiet zu rekolonialisieren, in dem das lokale Begrüßungskomitee nicht einmal einen Gemeindesaal füllen würde. Woher kommt sie nur, diese romantische Obsession in der Kultur der Spanisch sprechenden Welt, ein Stück Land besitzen zu wollen, ohne dabei den Willen der dort lebenden Menschen zu beachten?“