Regierungskrise in Österreich
Durch einen Rücktritt des ÖVP-Vizekanzlers Mitterlehner ist die österreichische Koalition aus sozialdemokratischer SPÖ und der konservativen ÖVP in die Krise geraten. Eine Neuwahl wird wahrscheinlicher. Die Konservativen können dabei nur gewinnen, prophezeien Kommentatoren.
Draufgängerische ÖVP
Die Regierungskrise kommt der konservativen ÖVP recht gelegen, meint Jutarnji list:
„Die Konservativen glauben offenbar, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Neuwahl gekommen ist: angesichts dessen, dass die Radikalen die Wahlen in Frankreich und den Niederlanden verloren haben und in Deutschland die Sozialdemokraten schwächeln. Ihr Kurz ist außerordentlich beliebt und das Wahlvolk beruhigt sich, nachdem die Flüchtlingskrise - dank Kurz - beendet ist. So hoffen die Konservativen, die stärkste Partei zu werden und sich dann frei einen Koalitionspartner aussuchen zu können. Sicherlich birgt dieser Plan viele Gefahren, aber in der Politik ist es eine beliebte Option, Risiken einzugehen, denn das beweist Mut und Entschlossenheit. Die Wähler schätzen solche Charaktereigenschaften.“
Die FPÖ ist zurück
Wie eine mögliche Neuwahl ausgehen könnte, darüber spekuliert Mladá fronta dnes:
„In den Umfragen führt seit Langem die Protestpartei FPÖ, die nur um ein Haar das Präsidentenamt verpasste. Damit ist deren Rückkehr in die Regierung denkbar, diesmal als stärkste Partei. Es gibt sowohl bei den Sozialisten SPÖ wie in der Volkspartei ÖVP pragmatische Befürworter einer Zusammenarbeit mit der FPÖ. Am meisten Nähe zu den Positionen der Freiheitlichen gibt es bei der Volkspartei mit dem jetzigen Außenminister Sebastian Kurz, der zu den beliebtesten Politikern im Lande zählt und wahrscheinlich der einzig annehmbare Vertreter seiner nicht sonderlich gemochten Partei ist. Es wäre möglich, dass Kurz nach der Wahl als Chef der Volkspartei und als Vizekanzler lediglich in einer Regierung von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache weitermacht. Oder man wiederholt das Modell von 2000, die FPÖ macht Kurz zum Kanzler, um selbst Teil der Regierung zu werden.“
Suche nach neuen Koalitionspartnern
Die Sozialdemokraten und die Konservativen in der Regierung sind heillos zerstritten, beobachtet die taz:
„Das Machtkartell SPÖ-ÖVP, das einst über 90 Prozent der Wählerschaft vertrat, ist verbraucht - und die Aussicht auf eine Neuauflage nach den nächsten Wahlen gilt als gefährliche Drohung. Mit der Neuaufstellung der ÖVP nach dem Rücktritt von Parteichef und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner ist eine Neuwahl im Herbst fast unausweichlich. ... In fast allen zentralen Fragen, wo Reformen anstehen, ist man unterschiedlicher Meinung und will eine unterschiedliche Klientel bedienen: Schule, Steuer, Überwachungsstaat. Nur in der Flüchtlingsabwehr marschiert man inzwischen im Gleichschritt zur Musik, die die rechte FPÖ trommelt. ... Wie die nächste Regierung aussehen wird, ist schwer vorauszusagen. Aber sowohl ÖVP als auch SPÖ würden wohl eher die FPÖ ins Boot holen, als es noch einmal miteinander zu versuchen.“
Koalition mit FPÖ wird wahrscheinlicher
Die Süddeutsche Zeitung erklärt die Hintergründe für Mitterlehners Rückzug:
„Der österreichische Vizekanzler ist zurückgetreten, weil er es satt hatte, nicht nach seiner Arbeit, sondern nur danach gefragt zu werden, wann er das Feld räumen werde für seinen jugendlichen Konkurrenten. Sebastian Kurz, populärer Außenminister, hat sich öffentlich nie um die Nachfolge beworben; das Gerangel fand hinter den Kulissen zwischen unterschiedlichen Machtzentren statt, wie es in der ÖVP selbstzerstörerische Tradition ist. Offenbar ist die Zahl jener, die eine Stärkung der Partei unter Kurz und eine Koalition mit der [rechts-nationalen] FPÖ anstreben, stetig gewachsen. Mitterlehner hätte vermutlich mehr Widerstand geleistet gegen Schwarz-Blau. Wenn die SPÖ, die keine Neuwahlen möchte, nun vor dem Griff der FPÖ nach der Macht warnt, dann erntet sie damit bei vielen Konservativen, die auf Kurz setzen, nur Schulterzucken.“
Bewährungsprobe jenseits der Showbühne
Kurz muss sich nun als Vizekanzler bewähren, meinen die Salzburger Nachrichten:
„Sebastian Kurz muss also von der internationalen Showbühne auf die Ebene der täglichen Regierungsarbeit herabsteigen. Jetzt kann und muss er zeigen, was er wirklich kann. Bisher kennt man den Außen- und Integrationsminister vor allem als erfolgreichen Schmied von internationalen Kooperationen zur Eindämmung der Zuwanderung. Als Vizekanzler muss er sich aber auch um Finanzen, Bildung, Wirtschaft, Landwirtschaft, Sozial- und Gesundheitspolitik oder Wohnen kümmern. Außenminister gehören in allen zivilisierten Ländern zu den beliebtesten Politikern. Sie werden von den Wählern als glamouröse Repräsentanten ihres Landes in der großen Welt wahrgenommen und nicht mit unangenehmen Wahrheiten wie Steuererhöhungen oder der Streichung von Subventionen zu Hause in Verbindung gebracht.“