Gelbwesten-Proteste eskalieren erneut
In ganz Frankreich sind am Wochenende 125.000 Gelbwesten auf die Straßen gegangen. Inzwischen protestieren die Menschen nicht mehr allein gegen die erhöhte Spritsteuer, sondern stellen auch sozialpolitische Forderungen. Doch angesichts von erneuten Gewaltausbrüchen in Paris und anderen Orten fragen Kommentatoren, ob die Bewegung ihre Chance auf politische Mitsprache verspielt.
Macron könnte die Gewalt gelegen kommen
Wo die Konfrontation zwischen Gelbwesten und Regierenden hinführen soll, fragt sich Libération:
„Wie soll denn die Gelbwesten-Bewegung ihre anfängliche Beliebtheit aufrecht erhalten, wenn ihr Effekt ist, dass die Bevölkerung verschreckt und die Hauptstadt jedes Wochenende zur Geisterstadt wird? Und Polizeikräfte in unerhörter Stärke zum Einsatz kommen, als sei man im Krieg? Die Regierung, steif, langsam und verständnislos, ist auf gravierende Weise verantwortlich für die Gewaltspirale. Die abfälligen, ungenierten Ausfälle des Präsidenten den einfachen Leuten gegenüber, die in Zeiten der Wirtschaftskrise am schwersten an den Einschnitten tragen, fliegen ihm nun wie ein Bumerang um die Ohren. Er wird den politischen Preis zahlen. Aber er kann sich diese Gelegenheit auch zunutze machen, um die Rolle des Ordnungshüters zu spielen und die Anliegen der Demonstranten zu diskreditieren.“
Mit Demokratie hat das nichts mehr zu tun
Dass die Protestbewegung ihr Potential verspielt, fürchtet auch Der Standard:
„Sind die Gelbwesten auch Teil der populistischen Grundströmung, die den Westen von Ungarn bis in die USA, von Italien bis Großbritannien durchzieht? Nicht nur: Sie könnten für Frankreich auch Gutes bewirken, wenn sie vermögen, was Macron nicht schaffte - nämlich verknöchertes Elitedenken und zentralstaatliche Machtstrukturen aufzubrechen. Was sie verlangen, ist auch mehr demokratisches Mitspracherecht in einem Land, das von einer technokratischen Elite regiert wird. Allerdings gefährden die samstäglichen Gewaltorgien in Paris neuerdings selber die Demokratie. Der gelbe Aufstand erschüttert ganz Frankreich in seinen Grundfesten.“
Ausschreitungen dürfen sich nicht lohnen
Für Dnevnik haben die Zugeständnisse, die die Protestler erkämpften, einen bitteren Nachgeschmack:
„Über Nacht haben sie die Macht Macrons, des Präsidenten der Reichen, völlig geschwächt und ihn dazu gezwungen, Maßnahmen zugunsten der unteren und der mittleren Schichten zu beschließen. Allerdings haben den Gelbwesten, die zumeist ruhig protestieren, Schläger der extremen Rechten und Linken sehr geholfen, die durch die Zerstörung einiger Pariser Straßen in der Nähe des Elysée-Palasts Macron und seinen Beratern Angst einjagten. Nur deshalb hat Macron nach dem 1. Dezember nachgegeben. Doch damit hat er wissen lassen, dass sich Gewalt lohnt, und das ist für die Demokratie gefährlich.“
Wer spricht für die Gelbwesten?
Jetzt stellt sich die Frage der politischen Repräsentation der Protestbewegung, bemerkt Politikwissenschaftler Toomas Alatalu in Eesti Päevaleht:
„Man kann sagen, dass das französische Volk innerhalb von vier Wochenenden sein Ansehen als Fürsprecher der Arbeiterklasse wiederhergestellt hat. … Es wird interessant sein zu sehen, mit wem die Regierung verhandeln wird. Können die Verhandlungspartner der Regierung wirklich diejenigen repräsentieren, die ihrer Unzufriedenheit mit der bisherigen Politik und den Reformen Ausdruck verliehen haben?!“
Präsident muss vom hohen Ross heruntersteigen
Macron muss nun zeigen, dass er die Sorgen der Unzufriedenen versteht und ernst nimmt, rät The Observer:
„Der Präsident hat es nicht geschafft, den revolutionären Umbruch zu liefern, den er versprochen hatte. Eine seiner ersten Maßnahmen war es, die wirkungslose französische Vermögenssteuer abzuschaffen. Damit wurde es ein Leichtes, ihn mit dem Etikett 'Präsident der Reichen' zu versehen. Er hat den guten Willen verspielt, der ihn im vergangenen Jahr an die Macht gebracht hatte. Sein Ruf, lebensfremd und abgehoben zu sein, ist verdient. ... Macron muss nun die Nerven behalten und aus diesen Lektionen lernen. Frankreich braucht jemanden, der mehr zuhört und weniger voranschreitet. Und der Präsident muss eine oder mehrere Stufen herabsteigen.“