Peking verschweigt Tiananmen-Massaker
Nach dem Tod des verhältnismäßig liberalen Parteichefs Hu Yaobang Mitte April 1989 demonstrierten Hunderttausende auf dem Tiananmen-Platz für politische Reformen. Der friedliche Protest endete Anfang Juni in einem von der Armee verübten Massaker mit Hunderten Toten. In China wird das Ereignis weiterhin totgeschwiegen.
Triumphiert Tiananmen über den Mauerfall?
Der Historiker und frühere EU-Abgeordnete Rui Tavares schreibt in Público:
„Die Ironie der Geschichte ist: Anstatt, dass der chinesische Kapitalismus die Demokratie ins Land importiert hat, wird dank der Globalisierung der chinesische Autoritarismus exportiert. 30 Jahre später gewinnt das Massaker von Tiananmen - oligarchischer Autoritarismus und Staatskapitalismus - in der Praxis gegen den Mauerfall - sprich gegen konstitutionelle Demokratie und pluralistische Zivilgesellschaft. ... Noch ist es nicht zu spät, um zu handeln. Wenn nicht auf der anderen Seite der Welt, dann zumindest in Europa. Wir müssen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und den Grundrechten wieder Vorrang einräumen und die Unabhängigkeit der Justiz sowie den Pluralismus in Medien und Gesellschaft stärken. Wenn wir dies nicht tun, könnte der chinesische Autoritarismus eines Tages das Schicksal vieler Europäer sein.“
Rede vom Zwischenfall ist purer Hohn
Chinas Sprachregelung zum Tiananmen-Massaker lässt tief blicken, konstatiert Club Z:
„Es ist mehr als zynisch, das Wort 'Zwischenfall' zu gebrauchen, wenn es sich um harte und zielgerichtete Repressionen der Staatsmacht gegen das Volk handelt. Dass Peking im Jahr 2019 immer noch keine Verantwortung für die Gewalt übernehmen will, bedeutet nicht nur, dass die Menschenrechte in diesem Land nicht garantiert sind. Es bedeutet auch, dass es erneut zu einem 'Zwischenfall' kommen könnte, wenn die Kinder der Tiananmen-Demonstranten sich heute gegen die Partei auflehnen würden.“
Der Rest der Welt schaute feige weg
Tiananmen steht auch für die Gleichgültigkeit des Rests der Welt, konstatiert grani.ru:
„Nach dem Massaker wurde in China der politische Reformkurs aufgegeben. Menschen gegen Panzer - in solchen Duellen verlieren meist die Menschen. Der 4. Juni 1989 ging in die Geschichte ein als tragischer Tag für eine ganze Generation, die von der Freiheit geträumt hatte. Und als Symbol der hinterhältigen Brutalität der Staatsmacht wie auch der feigen Gleichgültigkeit derjenigen, die das Geschehen von außen betrachteten. Diese Geschichte hätte anders verlaufen können, wenn vor drei Jahrzehnten die Welt die chinesischen Studenten unterstützt hätte.“
Opfer werden ein zweites Mal getötet
Dass Chinas kommunistische Parteiführung jegliches Gedenken an das Tiananmen-Massaker verbieten will, vergleicht die Neue Zürcher Zeitung mit der Verdrängung des Holocaust:
„Mit den Tiananmen-Müttern, die ihre Kinder vor 30 Jahren verloren haben, gibt es noch eine kleine Gruppe, die gegen das Vergessen ankämpft. In einem vor wenigen Wochen publizierten öffentlichen Aufruf haben sie an den einstigen deutschen Bundeskanzler Willy Brandt erinnert, der 1970 mit seinem Kniefall vor dem Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos um Vergebung gebeten hatte. Solche Grösse hat die Kommunistische Partei nicht. ... Solange die herrschende Führungsriege nicht ihr Schweigen bricht und sich für den Horror entschuldigt, klebt auch Blut an ihren Händen, wie ein Satz des Holocaust-Überlebenden Elie Wiesel deutlich macht: 'Wer das Geschehene vergessen will, tötet die Opfer ein zweites Mal.'“
Wie zu Zeiten Maos
Auch El Mundo konstatiert, dass das Regime keine Lehren aus dem Massaker ziehen will:
„Das Massaker von Tiananmen bleibt für das Regime auch nach 30 Jahren ein großes Tabu. ... Das Schlimmste ist, dass China drei Jahrzehnte später trotz des wirtschaftlichen Fortschritts und der Globalisierung auf politischer Ebene keinerlei Schritte in Richtung Demokratie gegangen ist. Die Persönlichkeits- und Menschenrechte werden weiterhin systematisch missachtet. Die Unterdrückung der Minderheiten ist brutal. Die drakonischen Umerziehungslager für Mitglieder der Gemeinschaften der muslimischen Kasachen oder der Uiguren erinnern an die dunkelsten Kapitel der Mao-Zeit.“
Autoritärer Kapitalismus ist unwiderstehlich
Chinas autoritärer Kapitalismus wurde von anderen Ländern kopiert, kommentiert der Publizist Ian Buruma in NRC Handelsblad:
„Russland ähnelt immer mehr dem China des [kommunistischen Führers zwischen 1979 und 1997] Deng Xiaoping. Manche Leute wurden steinreich, doch nicht immer auf ehrliche Weise. ... Ähnliches fand auch in Osteuropa statt. Der bekannteste Vorkämpfer der 'illiberalen Demokratie' - ein autoritäres Regime, in dem der Kapitalismus gut gedeiht - ist der ungarische Premier Viktor Orbán. Andere rechte Demagogen - auch in Westeuropa und den USA - eifern diesen Vorbildern nach. Mit Ausnahme von Polen bewundern sie Putin. ... Autoritärer Kapitalismus übt offensichtlich eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus auf Autokraten in der ganzen Welt. China war nur eines der ersten Länder.“