Warum ist die AfD in Ostdeutschland so stark?
Die rechtspopulistische AfD hat bei den Wahlen in den Bundesländern Sachsen und Brandenburg stark zugelegt und ist dort nun zweitstärkste Kraft. Kommentatoren ergründen die Ursachen für ihren Erfolg.
AfD poliert alte Zeiten auf
Die AfD verdankt ihre Zuwächse einer perfiden Strategie, analysiert der öffentlich-rechtliche Hörfunksender Český rozhlas:
„Das Wesen dieser Strategie ist es, die politische Union von West- und Ostdeutschland als gänzlich misslungen darzustellen. Viele Ostdeutsche wurden von dieser neuen, alternativen Sichtweise in Versuchung geführt. Die neue Partei erscheint ihnen als eine politische Kraft, die sich um sie kümmert. Diese Methode führt dazu, dass die Barrieren zwischen Ost- und Westdeutschen bestehen bleiben. Diese Barrieren verstärkt die AfD, indem sie beispielsweise das Misstrauen der Bürger gegenüber nationalen Medien oder etablierten politischen Institutionen vertieft. Genau so wie sie zugleich nostalgische Erinnerungen an die vermeintliche Stabilität vor 1989 in der DDR weckt. Das brachte ihr ein Viertel aller Wähler ein.“
EZB ist mitverantwortlich für Erfolg
Ein Grund für das starke Wahlergebnis der AfD im Osten ist auch die Geldpolitik der EZB, glaubt Expresso:
„Einer der Hauptgründe, warum sich die Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse fühlen, ist der Anstieg der Haus- und Mietpreise. ... Mit geringeren Einkommen und Ersparnissen als die westdeutschen Staatsbürger leiden sie darunter, sich nicht mit Investitionen am Immobilienmarkt bereichern zu können, der sich von billigen Schulden nährt, die von der derzeitigen Geldpolitik der EZB unterstützt werden. Stattdessen müssen sie hohe Mieten zahlen, die dazu dienen, westdeutsche Investitionen auf dem Immobilienmarkt zu unterstützen. Über die Auswirkungen von Null- oder Negativzinsen auf den sozialen Zusammenhalt und die politische Stabilität wurde bislang zu wenig gesprochen.“
Politik muss wieder mehr gestalten
Der Chefredakteur der Tageszeitung Der Tagesspiegel, Mathias Müller von Blumencron, weist darauf hin, dass die Probleme im Osten und Westen eigentlich recht ähnlich sind:
„Die rechtspopulistische Bewegung ist keine Ostmode, sondern eine besonders im Osten erfolgreiche Rebellion gegen tiefgreifende Veränderungen, die unsere gesamte Gesellschaft seit Längerem bewegen. ... Es rächt sich eine Politik, die jahrelang Themen wie Globalisierung, Digitalisierung und Migration hat geschehen lassen, statt sie zu steuern. Das laissez-faire und das Unbestimmte schaffen für zu viele keine Identifikation. Es heißt aber, dass Politik die zukünftige Gesellschaft offensiver und konkreter gestalten muss: Mehr Investitionen in abgehängten Regionen, mehr Engagement für Schulen, mehr Fortschrittsteilhabe durch großflächige Digitalisierung.“
Regieren könnte die AfD entzaubern
Die politische Ausgrenzung der AfD ist nutzlos, wenn man sie bekämpfen will, glaubt Daily Sabah:
„Es wird für die CDU jeden Tag schwerer, die AfD als ultrarechte populistische Partei zu identifizieren und sie als Koalitionspartner abzulehnen. Wenn die AfD ihre Wahlergebnisse in den Bundesländern weiter verbessert, hat sie die Möglichkeit, auf Landesebene Regierungspartner zu werden, wie dies in Italien und Österreich bereits der Fall ist. In manchen Bundesländern könnte eine Regierungsbildung mit der AfD die einzige Option werden. Die Ausgrenzung der AfD macht sie stärker. Vielleicht könnte die AfD an Attraktivität verlieren, wenn sie einmal Regierungsverantwortung trägt.“
Erst die Regierungsbildung abwarten
Zum jetzigen Zeitpunkt kann man noch gar keine Schlüsse aus den Landtagswahlen ziehen, findet El País:
„Es wäre ebenso falsch zu denken, die herkömmlichen Parteien hätten die populistische Gefahr gebannt, wie anzunehmen, die Wählerbasis der Rechtsradikalen wachse unaufhaltsam. Nun kommt es darauf an, wie sich die jeweiligen Regierungen bilden und vor allem, wie sich der politische Alltag in den beiden Bundesländern gestalten wird. ... Erst dann kann man die Wahlen vom Sonntag entweder als Wendepunkt in Deutschland deuten oder als Etappe auf dem Weg der AfD nach oben. “
Auch ein starkes Land braucht manchmal Hilfe
Nach dem Kraftakt der Wiedervereinigung könnte Deutschland nun jemanden brauchen, der ihm unter die Arme greift, meint Politiken:
„Ohne Zaudern und Zagen haben die deutsche Bevölkerung und die deutschen Politiker Willen und Mut gehabt, das Schicksal Deutschlands mit dem Europas zu verweben. ... Deutschland steht weiterhin als Garant für die Werte des demokratischen Rechtsstaats. ... Dennoch gibt es guten Grund daran zu erinnern, dass die Tage vorbei sind, an denen wir uns zurücklehnen und damit rechnen konnten, dass Deutschland Demokratie, Freiheit und wirtschaftliche Stabilität garantiert. ... Dänemark und die übrigen EU-Nationen sollten sich darauf besinnen, dass auch Deutschland unsere Hilfe brauchen könnte.“
Die Wende als Wahlkampfthema
Nur scheinbar ist am Sonntag noch einmal alles gut gegangen, meint die Berlin-Korrespondentin von La Repubblica Tonia Mastrobuoni:
„Das Schreckensszenario, wonach die rechtsextreme AfD die stärkste Partei in zwei Ländern der früheren DDR werde, ist abgewendet. ... Doch mehr als ein Viertel der Wähler in Sachsen und Brandenburg wählten diese Partei, die Angst, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit zum Hauptinstrument ihres Wahlkampfes machte. Weiterhin fängt sie die Stimmen derer ab, die sich von der Wiedervereinigung benachteiligt sehen, die sich als Wende-Verlierer betrachten. Nicht zufällig lautete der Slogan [der AfD] in Sachsen 'Wende 2.0'. Ein klarer Bezug zur Wende, der unterstellt, dass diese fehlgeschlagen sei.“
Viel Frust im Osten
Warum die AfD gerade im Osten so stark ist, erklärt Der Standard:
„In Ostdeutschland sind die Bürger noch weniger an Parteien gebunden als im Westen. Wer früher protestieren wollte, der gab seine Stimme der Linkspartei. Aber diese regiert längst mit und ist somit etabliert; da zieht man weiter zur AfD, die die Unzufriedenen anspricht. Das hat sie im Wahlkampf geschickt getan, indem sie suggerierte, es sei - 30 Jahre nach 1989 - eine neuerliche Wende nötig, um sich aus dem Joch von CDU und SPD zu befreien. Zudem verspricht die AfD, sie sei erstens die wahre Vertreterin des Volkes. Auch verspricht die AfD an der Seite jener zu stehen, die noch mehr Veränderungen scheuen. Und das sind im Osten viele Menschen, deren Biografien sich nach 1989 durch die neuen Verhältnisse sehr stark geändert haben - nicht immer zum Positiven.“
Politiker müssen offenes Ohr haben
Die AfD wird so schnell nicht wieder verschwinden, prognostiziert die Neue Zürcher Zeitung:
„Für die CDU in Sachsen und die SPD in Brandenburg bedeutet das Wahlergebnis eine Verschnaufpause. Wer solche Resultate aber wie grosse Siege feiert, ist einer nächsten Niederlage schon ein Stück näher gerückt. Die AfD spreche aus, was in den anderen Parteien nicht gesagt werden dürfe - davon sind laut einer Umfrage 99 Prozent der AfD-Wähler in Brandenburg überzeugt; und selbst über 50 Prozent der übrigen Wähler. Es ist ein Schlüssel zum Erfolg dieser Partei - und zu ihrer Bekämpfung. Wenn CDU und SPD den Leuten nicht das Gefühl geben, Probleme offen ansprechen zu können, werden sie weiter an Boden verlieren.“
Enormes Ansteckungspotential
Die Wahlergebnisse in Brandenburg und Sachsen sind eine Warnung für den Rest Europas, kommentiert El Periódico de Catalunya:
„Nach den ersten Jahren der Euphorie infolge der Wiedervereinigung haben sich auf dem Gebiet des einst kommunistischen Deutschlands Frust und Unzufriedenheit breitgemacht - geschürt vom ungleichen Wohlstandsniveau der Länder in Ost und West. So sind die linken Wählerstimmen und die des Zentrums kontinuierlich ins Lager des nationalistischen Populismus gewandert, der sich gegen den politischen Aufbau Europas, den Euro und gegen die Aufnahme von Flüchtlingen wehrt. Solch ein Programm birgt Risiken für die politische Stabilität des wichtigsten Landes in der EU. Und es ist auch deshalb gefährlich, weil es ein enormes Ansteckungspotential hat.“
Die Wähler wollen Kümmerer
Um der AfD etwas entgegenzusetzen, müssen die etablierten Parteien Politik neu denken, meint die Süddeutsche Zeitung:
„Wie das gelingen kann, konnten [die beiden Ministerpräsidenten] Michael Kretschmer und Dietmar Woidke in den letzten Tagen studieren. ... Plötzlich waren sie nicht mehr die Spitzenkandidaten ihrer Parteien; sie boten sich selbst an. Dass sie beide am Ende vorne liegen, haben sie sich selbst zu verdanken. Sie gingen und fuhren und reisten durchs Land als Kümmerer, die sich jeder Debatte und jeder Kritik stellten. Aus Ministerpräsidenten wurden Oberbürgermeister, mit wenig Partei, viel Person und jeder Menge konkreter Fragen. Das ist es, was die Wähler goutieren. Und was die beiden Politiker am deutlichsten von den rechten Populisten abgrenzt, die vor allem eines können: alles schlechtmachen.“
Bürger zweiter Klasse
Bei der Wiedervereinigung lief einiges schief, meint Tygodnik Powszechny:
„Die Landtagswahlen 30 Jahre nach dem Mauerfall lösen erneut Diskussionen über den Prozess der Wiedervereinigung aus. Die alte Frage kommt mit neuer Kraft zurück: Sind die Ostdeutschen Bürger zweiter Klasse? ... Die Löhne im Osten sind immer noch niedriger als im Westen (durchschnittlich 2790 Euro gegenüber 3340 Euro im Jahr 2018), und von den 500 größten deutschen Unternehmen haben nur 36 ihren Sitz im Osten, was geringere Steuereinnahmen bedeutet. ... Nach der Wiedervereinigung kamen sogar die vorherrschenden kulturellen Codes aus dem Westen. Viele Ostdeutsche der älteren Generation haben den Eindruck, dass ihre Lebenserfahrung keinen Platz im deutschen Diskurs hat.“
Abgehängt und selbstmitleidig
Von viel Hoffnung und noch größerer Enttäuschung der Ostdeutschen schreibt Aktuálně.cz:
„Ostdeutschland lebt nicht gut, die Jungen sind weggegangen, die Alten haben keinen guten Job und kein zufriedenstellendes Einkommen, die Rentner leben an der Armutsgrenze. Ist dies das versprochene Paradies der liberalen Demokratie, für das die Ostdeutschen vor 30 Jahren auf die Straße gingen? ... Das Gefühl der Abschottung und Bedeutungslosigkeit hat sich durch die Migrationskrise verstärkt. Dank der öffentlich diskutierten Sozialhilfe für Flüchtlinge haben viele Ostdeutsche erkannt, dass sie sich in einer ähnlichen Einkommenssituation wie Flüchtlinge befinden, dass sie wie Flüchtlinge in ihrem eigenen Land sind. Das geforderte christliche Mitgefühl für andere hat gewöhnlichem Selbstmitleid Platz gemacht.“
Isolation der AfD hilft nicht weiter
Der Abstand der anderen Parteien zur AfD hat die Rechtspopulisten nur noch weiter gestärkt, glaubt Expressen und rät Deutschland wie auch Schweden, alte Barrieren einzureißen:
„In mehreren deutschen Bundesländern, wie vergleichbar in schwedischen Gemeinden und Regionen, haben Politiker mit dem alten Gebot gebrochen, nachdem sie nicht mit der Linkspartei regieren sollen. In einer Handvoll schwedischer Gemeinden sind die [liberale Partei] Moderaterne und andere bürgerliche Parteien auf ähnliche Weise eine Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten eingegangen. In einem Europa, in dem die alten großen Parteien implodieren und die Parlamente fragmentiert sind, wird es immer schwieriger, die Isolationslinie aufrechtzuerhalten - vor allem auf lokaler und regionaler Ebene.“