Welches Urteil wird George Floyd gerecht?
In Minneapolis hat der Mordprozess gegen den ehemaligen Polizisten Derek Chauvin begonnen. Laut Staatsanwaltschaft hatte er bei einem Einsatz im Mai 2020 sein Knie neun Minuten und 29 Sekunden auf den Hals des Schwarzen George Floyd gepresst – kurz danach starb Floyd. Folgt das Gericht der Anklage, drohen Chauvin bis zu 40 Jahre Haft. Kommentatoren beleuchten vor allem den enormen öffentlichen Druck, unter dem das Verfahren stattfindet.
Verfahren wird zeigen, wo das Land steht
In Minneapolis entscheidet sich das Schicksal der USA, prophezeit Korrespondent Federico Rampini in La Repubblica:
„Die Rechtsstaatlichkeit steht auf dem Spiel, die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Demokratie: gegenüber den eigenen Bürgern; gegenüber ausländischen Freunden oder Feinden ... Die ganze Nation wird aus dem Urteil folgenreiche Schlüsse ziehen: ob die Afroamerikaner dem Strafrechtssystem ihres Landes vertrauen können; ob die Strafverfolgungsbehörden sich für ihre Handlungen vor dem Gesetz verantworten müssen; ob die Rassenfrage eine unheilbare Plage ist, weil sie in die Institutionen 'eingekerbt' ist, eine Erbsünde in der DNA der Vereinigten Staaten.“
Schier unerfüllbare Erwartungen
Der Druck auf Jury und Richter wird immens sein, meint Der Tagesspiegel:
„Welches Urteil kann das aufgewühlte Amerika beruhigen? Zehn Jahre, 25, 40? Muss Chauvin explizit als Rassist verurteilt werden? Ist es zu wenig, wenn nur seine exzessive Gewaltanwendung angeprangert wird? ... Für die afroamerikanische Community soll der Prozess konstatieren, dass es in den USA strukturellen Rassismus gibt und eine Polizei, die für Schwarze mehr Bedrohung als Schutz darstellt - ein fast unmögliches Ziel. ... Der Ausgang auch dieses Prozesses ist offen, so, wie es in einem Rechtsstaat der Fall sein sollte. Aber selten ist die Sorge so greifbar, dass am Ende zu viele enttäuscht sein werden.“
Opfer nicht zum Täter machen
Dass Chauvins Verteidiger versuchen, George Floyd zu diskreditieren, empört den Kolumnisten Ahmed Baba in The Independent:
„Auch wenn sich herausstellt, dass alles wahr ist, was die schlimmsten rechten Meinungsmacher sagen, spielt das keine Rolle. Wer einen Charakter mit Makeln hat, verdient deshalb keine Hinrichtung. Kein Charakterzug beraubt eine Person ihres Rechts auf Leben und ein ordnungsgemäßes Verfahren. Nichts, was George Floyd oder eine andere unbewaffnete getötete schwarze Person tat, rechtfertigt eine außergerichtliche Tötung. Nichts. ... Diese Strategie ist so alt wie Rassismus selbst, und es ermüdet zu sehen, wie sie angewendet wird.“
Das Urteil ist schon gefällt
Das Publikum hat sich seine Meinung über den Angeklagten bereits gebildet, fürchtet der rechtspopulistische Politiker Alain Destexhe in Causeur:
„Es ist zu hoffen, dass Chauvin das Recht auf einen gerechten Prozess gewährt wird. Auf Grundlage der Fakten scheinen ein Freispruch oder eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung durchaus im Rahmen des Möglichen zu sein. Beides würde jedoch einen großen Teil der Öffentlichkeit, für den das Urteil bereits feststeht, in Aufruhr versetzen. Ist Chauvin dazu verdammt, zum Sündenbock zu werden, zu dem, der die Wut der Gemeinschaft beruhigt und die Gewalt kanalisiert, um in diesem Fall ein neues Aufflammen von Unruhen in den USA zu verhindern?“