Russland verbietet Menschenrechts-NGO Memorial
Russische Gerichte haben das Moskauer Menschenrechtszentrum der NGO Memorial sowie deren Dachorganisation Memorial International verboten. Angelastet wurden Memorial, das sich seit über 30 Jahren um eine Aufklärung der staatlichen Verbrechen in der Sowjetzeit gekümmert hatte, wiederholte Verstöße gegen die Auflagen für "ausländische Agenten". Einer noch möglichen Berufung werden wenig Chancen eingeräumt.
Putin will auch Kontrolle über die Vergangenheit
Das Gerichtsurteil markiert die Konfrontation zweier Auffassungen, wofür die Sowjetunion stand, meint der Politikexperte Radu Carp bei Adevărul:
„Ein Teil der russischen Gesellschaft war nach 1991 der Ansicht, dass der Sowjetstaat kriminell war und während seiner gesamten Existenz missbräuchlich agiert hat. Dagegen sind Politiker mit engen Verbindungen zur UdSSR der Meinung, dass der Untergang des sowjetischen Staates ein großer Fehler war. Wladimir Putin ist Teil dieser letztgenannten Kategorie. Wie schon zu Sowjetzeiten hat das heutige Russland es geschafft, die Justiz vollständig unterzuordnen und sie für seine politischen Ziele einzusetzen. ... Autoritäre Regime begnügen sich nicht damit, ihre Bürger zu kontrollieren, sie wollen auch die Vergangenheit kontrollieren.“
Der breiten Masse ist das ganz recht - oder egal
Der Journalist Artemi Troizki meint in Nowaja Gaseta, man solle die Vernichtung von Memorial nicht nur Putin anlasten:
„Für diese Aktion gab es zwar nicht gerade direkte Nachfrage, aber doch schweigende Zustimmung seitens breitester Gesellschaftsschichten Russlands. Stalins schockierende Beliebtheit und die allgemeine Sowjet-Nostalgie (besonders rührend ist sie unter jungen Leuten) lassen keinen Zweifel, dass die Reaktion der Volksmasse auf die Säuberung von Memorial irgendwo zwischen 'Ganz richtig!', 'Was ist so schlimm dabei?' und 'Mir doch wurscht' schwankt. Eine Petition zur Verteidigung der Organisation bekam im Laufe von mehr als einem Monat 140.000 Unterschriften - das sind weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung.“
Der Kreml macht, was er will
Das Verbot ist kein gutes Zeichen für die russische Zivilgesellschaft, konstatiert der Tages-Anzeiger:
„Die Botschaft an die Russinnen und Russen könnte klarer nicht sein: Sie sollen sich nicht um die Verbrechen der Stalin-Zeit scheren, bei denen Abermillionen von Menschen getötet, gefoltert, vertrieben, gezeichnet wurden. Und sie sollen sich auch nicht um die Verstösse scheren, welche das heutige Regime begeht. Der Kreml tut, was er will, und wer aufmuckt, der lebt gefährlich.“
Ein pauschaler Maulkorb wäre ehrlicher
Radio Kommersant FM beklagt sarkastisch weniger das Verdikt als die sich daraus ergebende Rechtsunsicherheit:
„Okay, Memorial habt ihr aufgelöst, aber was kommt nun? Eigentlich muss der Staat nun eine exakte Antwort geben, ob man nun Nachforschungen zu Ereignissen der Sowjetvergangenheit machen darf oder nicht. Wäre es nicht einfacher, das alles zu verbieten? Sagen wir doch einfach, die Sowjetunion war ein Staat, in dem es prinzipiell keine politische Repression gab. Und wer das Gegenteil behauptet, ist ausländischer Agent und imperialistischer Handlanger. Dann haben wir es leichter, weil Klarheit herrscht. Aber so ist das nichts Halbes und nichts Ganzes: Man weiß nicht, was man darf und was nicht.“