Kyjiw: Lebenslang für russischen Soldaten
Im ersten Kriegsverbrecherprozess in der Ukraine ist ein 21-jähriger russischer Soldat zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Er hatte gestanden, in den ersten Kriegstagen in einer Fluchtsituation auf Befehl einen unbewaffneten 62-jährigen Zivilisten in der Region Sumy erschossen zu haben. Sein Anwalt will Berufung einlegen. Europas Presse betrachtet den Prozess aus unterschiedlichen Perspektiven.
Der Krieg hinterlässt menschliche Ruinen
Die Tageszeitung Die Welt betont das Katastrophale des Krieges:
„Wer den 21-jährigen Milchbart vor Gericht stehen sah, angstgepeinigt und knieweich, der ist zumindest berührt. ... Gut möglich, dass er zu den Rekruten gehörte, ... die erst später merkten, dass sie in die Großmetzgerei des Krieges geraten waren. Nichts rechtfertigt ihre Taten. ... Dennoch darf man traurig sein. ... Der Krieg ist eine Katastrophe. Er tötet. Er zerstört. Er legt Städte in Trümmern und verwandelt Kinder, Frauen und Männer in menschliche Ruinen.“
Aufarbeitung derzeit kaum möglich
Dem Angeklagten wurde das Recht auf Verteidigung verwehrt, kritisiert La Stampa:
„Selbst Naziverbrechern wurde in Nürnberg das Recht zugestanden, Verteidiger ihrer Wahl zu benennen. Das war möglich, weil der Krieg vorbei war. ... Ist aber ein ukrainischer Pflichtverteidiger mit dem Begriff der Gerechtigkeit vereinbar? Noch dazu ein eher wortkarger Anwalt, dessen Verteidigungsstrategie sich darauf beschränkte, auf die Abscheulichkeit des von seinem Mandanten begangenen Verbrechens hinzuweisen. ... Es geht um die obligatorische Bestrafung der Schuld und die Schaffung der Grundlagen für eine mögliche Wiederherstellung des Zusammenlebens, das durch das Verbrechen zerrissen wurde. Erreicht man dieses Ziel, wenn man den Feind in Kriegszeiten vor Gericht stellt?“
Kein billiges Manöver
Die taz glaubt, dass von diesem Prozess eine Signalwirkung ausgehen könnte:
„Unabhängig davon, wie der Gang vor die nächsthöhere Instanz ausgeht, lässt dieses Prozedere darauf schließen, dass dieser Prozess rechtsstaatlichen Kriterien folgt und die Rechte des Angeklagten gewahrt werden. Das dürfte all diejenigen Lügen strafen, die in dem Verfahren ein billiges Manöver sehen. ... Auch in der russischen Öffentlichkeit könnte der Prozess, den selbst staatliche Medien vermelden, etwas in Bewegung bringen: So sieht sie also aus, die 'Spezialoperation' – ein grausamer Krieg, der so nicht genannt werden darf. Soldaten, auch wenn sie am untersten Ende der Befehlskette agieren, werden für ihr Tun zur Verantwortung gezogen.“
Kontrast zum russischen Willkürregime
Das Urteil ist erst der Anfang, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„Obwohl das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, handelt es sich um einen ersten Meilenstein in der juristischen Aufarbeitung der im Zug des Krieges verübten Straftaten. … Für die Opferangehörigen und auch als Abschreckung ist von Bedeutung, dass rasch erste Täter zur Verantwortung gezogen werden können. Die Ukraine möchte sich so als Rechtsstaat im Gegensatz zum russischen Willkürregime präsentieren. Umso wichtiger ist, dass dieses erste Verfahren gegen Wadim S. von internationalen Experten als fair und transparent bewertet wird. Die Anhörung war öffentlich, wurde online übertragen, und Medien wie Hinterbliebene hatten Zugang.“