Chaos am Stade de France: Wer ist verantwortlich?
Das Durcheinander beim Champions-League-Finale zwischen Real Madrid und Liverpool am Samstag in Saint-Denis schlägt Wellen in Europas Kommentarspalten: Tausende Fans steckten an den Einlässen fest, die Polizei setzte Tränengas ein, es gab rund 200 Verletzte und über 100 Festnahmen. Frankreichs Präsident Macron drückte sein Bedauern aus, Innenminister Darmanin räumte Fehler ein, verwies aber auf massenhafte Ticketfälschungen als Ursache.
Diesmal waren die Ordnungshüter die Bösen
Die berüchtigten englischen Fußballfans waren nicht das Problem, erklärt der Irish Independent die Ereignisse:
„Englische Fans im Allgemeinen und Liverpool-Fans im Besonderen haben in Europa einen schlechten Ruf. Und es stimmt schon, sie helfen sich hier selbst nicht. Die Schlägereien, die das Finale bei der EM 2020 zwischen England und Italien in Wembley begleiteten, waren eine schmerzliche Erinnerung daran, dass die sogenannte 'englische Krankheit' des Rowdytums nicht einfach verschwunden ist. Aber so gerne wir unsere englischen Freunde und ihr unmögliches Verhalten bei Spielen verspotten, wurden Zuschauer mit dem Anblick von entsetzlicher Boshaftigkeit konfrontiert - dieses Mal aber von Seiten der örtlichen Polizei, nicht von den Fans ausgehend.“
Unfit für Olympia 2024
Die amtierende Bürgermeisterin von Paris, wo es zum Finale eine Fanzone gab, ist einfach unfähig, stichelt The Daily Telegraph:
„Bürgermeisterin Anne Hidalgo plant, olympische Veranstaltungen mit verengten Straßen und 60 Prozent weniger Parkplätzen zu beglücken, sowie die Pont d'Iéna, die den Eiffelturm mit dem Trocadéro verbindet, in eine autofreie Gartenbrücke zu verwandeln. Als früheres Exempel ihres Organisationstalents schuf sie am vergangenen Samstag auf dem Champ de Mars eine Fan-Zone für Liverpool-Fans ohne Miet-Toiletten oder Mülleimer - mit vorhersehbaren Folgen. Von Zweifeln unberührt verkündete Hidalgo großspurig, dass sie - à la Moskau 1974 [1980] - für die Größen bei Olympia gesonderte Fahrspuren durch die von ihr zum Stillstand gebrachte Stadt einrichten will. Was kann schon schief gehen?“
Ausdruck des politischen Klimas
Die regierungsnahe Daily Sabah nimmt die Vorfälle zum Anlass, grundsätzliche Kritik an Frankreichs Demokratie zu üben:
„Die Schwäche und/oder der Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt der französischen Sicherheitskräfte bei verschiedenen gesellschaftlichen Ereignissen wie Migranten-Unruhen, den Gelbwesten-Protesten und zuletzt dem Chaos bei Sportwettkämpfen werfen Fragen zur Kapazität des französischen Staates sowie zu seiner Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf. Welche Rolle spielt die jüngste populistische Welle in der französischen Politik, die bestimmte Teile der Gesellschaft ausgrenzt, bei der Entstehung der Atmosphäre, die solche Ereignisse verursacht? Fast 80 Prozent der Franzosen stimmen entweder für ultrarechte oder ultralinke politische Parteien.“
Intelligente Kameras sehen mehr
Künftig sollte man bei Großveranstaltungen auf neue Technologie setzen, rät William Eldin, Unternehmer im Bereich Künstliche Intelligenz, in Les Echos:
„Selbst für ein noch so großes Team ist es unmöglich, in einer Sicherheitszentrale zehntausende Videos zu analysieren, vor allem in einer Krisensituation, wenn Entscheidungen fast sofort getroffen werden müssen. ... Die Sicherheitskräfte müssen durch Technologie 'erweitert' werden, aber die endgültige Entscheidungskompetenz behalten, insbesondere um die reibungslose Fortbewegung von Fahrzeugen und Personen zu ermöglichen und Durchgänge freizuhalten, ungewöhnliches Verhalten auszumachen, die Einhaltung von Höchstkapazitäten sicherzustellen und verdächtige Handlungen zu identifizieren.“
Sicherheitskonzept überdenken
Echte Lehren aus dem Desaster zieht man anders, kritisiert Le Monde:
„Der Innenminister hat in den vergangenen Wochen betont, dass die Vorbereitung der Sicherheit bei den Olympischen und Paralympischen Spielen in Paris 2024 den roten Faden seines Mandats darstellen werde. Was am Samstag im Stade de France geschah, verheißt nichts Gutes für diesen Fahrplan, vor allem wenn die Regierung sich ans Leugnen klammert. Sie muss sich schnell davon abkehren, um unter besten Bedingungen die Rugby-WM 2023 vorzubereiten. Und wäre es für die Eröffnungsfeier von Olympia, bei der entlang der Seine achtmal so viele Zuschauer wie im Stade de France empfangen werden sollen, nicht vernünftiger, die Ambitionen herunterzuschrauben?“
Hausgemachte Ursache
Der Historiker und Berater Guylain Chevrier sieht in Le Figaro die Schuld nicht bei Polizei oder Uefa, sondern bei schlecht integrierten Teilen der französischen Gesellschaft:
„Der Rechtsstaat scheint nicht mehr zu funktionieren, denn einige Individuen mit von der Norm abweichendem Benehmen halten sich nicht mehr an die Grenzen, die bis vor Kurzem das Fundament der Erziehung ausmachten, die auf Achtung der Anderen und der öffentlichen Güter beruht. ... Doch woher kommt dieser Zustand? Hier wird immer offenkundiger, dass die Sozialisierung fehlt. … Fußball ist ein Volkssport, der Vorbilder liefern und zum Überwinden von Vorurteilen beitragen kann, um Menschen zusammenzubringen und zu verbrüdern. Doch dies stimmt nur, wenn dahinter eine kohärente Gesellschaft steht. “