Wer folgt auf Boris Johnson?
Noch bis zum 5. September können die Mitglieder der Tories abstimmen, wer künftig die konservative Partei und somit auch die Regierung Großbritanniens anführen soll. Umfragen zufolge führt Außenministerin Liz Truss klar vor ihrem einzigen verbliebenen Kontrahenten, dem ehemaligen Finanzminister Rishi Sunak. Kommentatoren bewerten die Zukunftsaussichten.
Truss könnte sich als Regierungschefin behaupten
Die von manchen geäußerte Ansicht, dass die Favoritin Truss als Premierministerin angesichts der zahlreichen Probleme schnell scheitern würde, teilt The Independent nicht:
„Hier kommen einige Faktoren ins Spiel. Zunächst die Art und Weise, wie Truss auf die Krise reagieren wird. Selbst wenn Menschen leiden, könnte es ihr am Ende hoch angerechnet werden, zumindest versucht zu haben, die Betroffenen zu schützen, und die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben. Nehmen wir nun an, dass Truss die erste Phase heftiger politischer Angriffe übersteht. Dann stellt sich für die Wählerinnen und Wähler die Frage, ob die Labour Party mit ihrem Chef Keir Starmer eine bessere Alternative wäre. Truss müsste in der Tat eine sehr schlechte Premierministerin sein, damit die Antwort auf diese Frage eindeutig ausfällt.“
Die Vergangenheit mit Johnson disqualifiziert
Weder Truss noch Sunak taugen zur Führung des Landes, klagt Times of Malta:
„Was beide Kandidaten unwählbar machen sollte, ist ihre gemeinsame Vergangenheit in einer Regierung, die mutwillig demokratische Normen und Anstandsregeln missachtete. ... Richter wurden als Feinde des Volkes gebrandmarkt. Das Parlament wurde nach Hause geschickt, damit es sich nicht in die Arbeit der Exekutive einmischt. Unabhängig denkende Abgeordnete wurden aus dem Amt gejagt. Im öffentlichen Dienst, der um sein Fachwissen und sein Pflichtbewusstsein beneidet wurde, wurden die klügsten Köpfe entfernt. Das Austrittsabkommen mit der EU wurde infrage gestellt, kaum dass es von Johnson unterzeichnet worden war.“
Briten haben Besseres verdient
Der Wahlkampf der Tories hat mit den Problemen der Bevölkerung wenig zu tun, ärgert sich London-Korrespondent Sebastian Borger in Der Standard:
„Großbritannien stolpert in diesem Sommer führungslos von einer Krise in die andere. ... Unterdessen vertreiben sich die beiden Leute, die noch ums Spitzenamt in Partei und Regierung buhlen, die Zeit mit einem 'Urlaub von der Realität', wie Polit-Veteran Michael Gove treffend sagt. Die haushohe Favoritin, Außenministerin Liz Truss, umschmeichelt die etwa 160.000 Mitglieder der Tories - 0,3 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung - mit dem Versprechen unleistbarer Steuersenkungen, Ex-Finanzminister Rishi Sunak wiederum will 'bösartige' Kritik am Land unter Strafe stellen. Die Briten haben Besseres verdient.“
Das wird leider kein echter Bruch
Weder Rishi Sunak noch Liz Truss können einen Neustart verkörpern, moniert The Guardian:
„Beide stehen eher für eine Fortsetzung statt einer Abkehr von Boris Johnsons Politik. ... Sollte Sunak gewinnen, wäre er der erste nicht-weiße Premier Großbritanniens. Sollte Truss siegen, wäre sie die dritte Premierministerin. Für die Diversität wäre beides ein wichtiger Augenblick. Aber es unterstreicht auch den lediglich symbolischen Wert solcher Repräsentanten, denn beide Kandidaten tragen Verantwortung für die erheblichen Versäumnisse der Regierung bei der Beseitigung von systembedingter Ungleichheit.“
Truss macht wohl das Rennen
Dass die Mitglieder einer Partei nun den Regierungschef des Landes bestimmen, findet Ria Nowosti nicht besonders demokratisch:
„Der Umfragedienst YouGov interviewte 725 Konservative und kam zu dem Schluss, dass Truss die Stichwahl gegen Sunak gewinnt: Für sie würden 55 Prozent stimmen, für den Ex-Finanzminister 35 Prozent. Natürlich steht noch ein ganzer Monat voller Debatten, Auftritte und Wahlversprechen bevor. Aber es ist zweifelhaft, dass Sunak das Verhältnis umkehren kann. ... Die britische Presse kann die genaue Zahl der Tory-Parteimitglieder nicht nennen - sie schwankt zwischen 160.000 und 200.000. Jedenfalls werden nur 0,4 Prozent der britischen Wahlberechtigten den neuen Regierungschef bestimmen. Hübsch demokratisch ist das.“
Es wird einen lachenden Dritten geben
Der eigentliche Gewinner steht schon vor der Stichwahl fest, meint Johnson-Biograph Tristan de Bourbon in La Tribune de Genève:
„Unabhängig davon, wer Boris Johnsons Nachfolger wird - das wird am 5. September bekannt gegeben - wird dieses traurige Schauspiel nur einen Gewinner hervorbringen: die Labour-Partei. Die Abgeordneten der größten Oppositionspartei reiben sich die Hände. Ihr Vorsitzender Keir Starmer ahnt, dass er zum ersten Mal eine echte Chance hat, die nächsten Parlamentswahlen, die für 2024 angesetzt sind, zu gewinnen. Und das, obwohl es ihm an Charisma und einer klaren politischen Linie fehlt.“