Frankreich: Erneut Massenproteste gegen Rentenreform
In Frankreich haben erneut Hunderttausende mit Streiks und Demonstrationen gegen die geplante Rentenreform protestiert. Nach Behördenangaben gingen landesweit 1,3 Millionen Menschen auf die Straße. Fern- und Nahverkehrszüge fielen aus, Lehrer legten die Arbeit nieder und Raffinerien wurden blockiert. Was bedeutet der starke Widerstand?
Das taube Ohr des Präsidenten
Macron hat nichts aus den vergangenen Krisen gelernt, kritisiert Libération:
„Er glaubt, dass noch etwa zehn Tage bleiben, in denen er die Zähne zusammenbeißen und Frankreich ohne zu mucken beim Protestieren zusehen muss, bis der Reformvorschlag schließlich verabschiedet wird und die Öffentlichkeit sich schweren Herzens anderem zuwendet. … Aber wie kommt er nur darauf, dass das keine Spuren hinterlassen wird? Wenn man die verschiedenen Minister beim Wort nimmt, die nacheinander versucht haben, die Massen zu beruhigen und dabei – zu oft - das Wort 'Verantwortung' gebraucht haben, stellt man fest, dass Verantwortung in dieser Krise eindeutig von den Gewerkschaftsführern übernommen wurde. Sie haben es verstanden, sich zusammenzuschließen und Demonstrationen ohne größere Ausschreitungen zu organisieren.“
Es geht um die Zukunft des Landes
Für den Herausgeber von Mediapart, Edwy Plenel, unterscheidet sich der Widerstand gegen die Rentenreform stark von früheren Protestbewegungen:
„Ihre Größe, ihre Hartnäckigkeit, ihre Entschlossenheit und ihre Dauer, vor allem aber auch ihre außergewöhnliche Einheit beweisen, dass es sich weder um einen Refrain noch um eine Wiederholung handelt. Diejenigen, die seit zwei Monaten demonstrieren, streiken, zustimmen oder unterstützen, haben verstanden, um was es bei dem Renten-Kampf geht: Um Fragen, die für die Zukunft unseres Landes, seinen künftigen Zusammenhalt und seine kommenden Generationen entscheidend sind. Es sind soziale, demokratiepolitische und, um es ganz klar zu sagen, zivilisatorische Fragen.“
Blockade kaum noch möglich
Es ist heutzutage schwierig, Frankreich zum Stillstand zu bringen, argumentiert Slate:
„Die Veränderungen in der Organisation der öffentlichen Dienste und ihre zunehmende Prekarisierung haben die Gewerkschaftsdynamik abgestumpft. Das Arbeiten im Home-Office, das von einigen Gewerkschaftern vorschnell als soziale Errungenschaft begrüßt wurde, wendet sich automatisch gegen das gewünschte Ziel der 'Blockade'. Während das Home-Office während der Covid-Monate in vielen Medien gelobt wurde, hat es zweifellos eine 'streikbrechende' Wirkung. … Der Streik hat nun zwar Auswirkungen auf den Geldbeutel, aber keinen symbolischen Effekt für das Kollektiv der Arbeiterschaft.“
Irrationale Dramatisierung
La Croix erklärt, warum sich der Kampf um die Rentenreform derart zuspitzt:
„Die irrationale Dramatisierung, die in niemandes Interesse liegt, ergibt sich aus der Schwäche der Akteure. Der Regierung fehlt in der Nationalversammlung die absolute Mehrheit. Sie hat sich sehr schnell in die Hände eines Verbündeten [Les Républicains] begeben, der weniger zuverlässig ist, als es scheint. Und die Gewerkschaften beweisen zwar zweifellos eine kollektive Intelligenz, indem sie eine Ablehnungsfront aufbauen, aber das liegt vor allem daran, dass die beiden größten Gewerkschaftsbünde in ihrer Basis gefangen sind, weil sie vor einer Erneuerung ihrer Führungsspitze stehen. … Sicherlich gibt es nie den richtigen Zeitpunkt für eine Rentenreform. … Aber selten waren die politischen Bedingungen so ungünstig.“
Franzosen halten an Sonderstellung fest
Macron wird mit seinen Plänen weiter auf Granit stoßen, glaubt Paris-Korrespondent Stefano Montefiori in Corriere della Sera:
„Die am stärksten kritisierte Maßnahme ist die Anhebung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre (mit Ausnahmen für schwere Arbeit): Das scheint kein so großes Opfer zu sein, bedenkt man, dass die Grenze in Europa in der Regel höher liegt und die Lebenserwartung in Frankreich wie auch anderswo weiter steigt. ... Aber die Franzosen halten fest an ihrer Ausnahmestellung und den Errungenschaften ihres Sozialmodells. Und wenn die Regierung erklärt, dass sie länger arbeiten sollten, um eben dieses Sozialmodell zu finanzieren, ist die Antwort, man solle doch die Milliardäre zur Kasse bitten, die in den letzten Jahren ihren Reichtum vervielfacht haben, während die Mittelschicht verarmt ist.“
Streiks treiben die Preise hoch
Die Protestwelle wird zum Risiko für die Wirtschaft, warnt der Paris-Korrespondent des Handelsblatts, Gregor Waschinski:
„Denn ausgerechnet im Energiesektor wollen die Gewerkschaften die Arbeitsniederlegungen ausweiten. Beim Energiekonzern EDF begannen die Beschäftigten bereits Ende vergangener Woche mit Ausständen, die französische Stromproduktion sinkt. Die Streiks in den Raffinerien von Total Energies dürften Auswirkungen auf die Versorgung mit Benzin und Diesel im Land haben. Die Folge könnten steigende Preise sein, nicht nur für Unternehmen, sondern auch für die arbeitende Bevölkerung.“