Israels höchstes Gericht stoppt Justizreform
Das Oberste Gericht Israels hat ein Kernelement der umstrittenen Justizreform von Benjamin Netanjahus Regierung gekippt. 8 von 15 Richtern stimmten gegen die Gesetzesänderung zur sogenannten Angemessenheitsklausel vom Juli 2023. Das Oberste Gericht verlöre mit ihr die Möglichkeit, Regierungsentscheidungen als "unangemessen" einzustufen und außer Kraft zu setzen. Ist Israels Demokratie nun wieder im Lot?
Fehlende Verfassung macht alles komplizierter
Der Streit ist mit diesem Urteil nicht beigelegt, so The Economist:
„Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die Entscheidung der Regierung zu kippen, um die eigene Macht zu verteidigen, ist kühn, wenn man bedenkt, dass Israel keine formelle, schriftlich formulierte Verfassung hat, die die Gewaltenteilung festlegt. ... Das Urteil wird dennoch nicht den Kampf um den Charakter der israelischen Demokratie beenden, der zwischen rechten und religiösen Teilen der Gesellschaft einerseits und liberalen, säkularen andererseits ausgefochten wird. ... Als Israel 1948 seine Unabhängigkeit erklärte, wurde die Verabschiedung einer Verfassung verschoben, weil die Meinungsverschiedenheiten zu schwierig zu lösen schienen und das Land einen Krieg zu führen hatte.“
Sieg für einen unvollständigen Rechtsstaat
De Volkskrant freut sich, sieht aber einen Wermutstropfen:
„Eine liberale Demokratie braucht Überprüfung und Ausgleich, individuelle Grundrechte, die Minderheiten vor der Tyrannei der Mehrheit schützen. Überall versuchen autoritäre, populistische Führer dieses liberale Element zu schwächen. ... Daher ist es erfreulich, dass der Gerichtshof in Jerusalem diese unseligen Pläne der Regierung Netanjahu blockiert hat. Und doch hat das Urteil auch etwas Bitteres. Während in Jerusalem das Recht siegte, regiert in Gaza noch immer die Gewalt. Das Urteil des Gerichtshofes war ein Sieg des Rechtsstaates, aber Israel kann erst ein Rechtsstaat sein, wenn das auch für die Palästinenser gilt.“
Regierung muss nach dem Krieg abtreten
Israels Justiz hat im letzten Moment die Notbremse gezogen, meint Der Standard:
„Die Koalition unter Netanjahu ist jedenfalls kein bisschen geläutert. ... Hochrangige Vertreter der rechten Regierung werfen dem Obersten Gerichtshof nun vor, einen Spalt in die vom Hamas-Überfall schwer gezeichnete israelische Gesellschaft zu treiben. Das ist Täter-Opfer-Umkehr im Reinformat: Es war ja die Regierung, die mit ihrer Fixierung auf den Justizumbau einen tiefen Spalt in die Gesellschaft trieb. ... Wenn der Krieg vorbei ist, wird diese Regierung zurücktreten müssen. Dann wird auch das düstere Kapitel des drohenden Justizumbaus ein Ende finden.“
Brachialität führt in die Sackgasse
Das gemeinsame Trauma vom 7. Oktober könnte Israels Gesellschaft zumindest aus dieser Krise einen Ausweg eröffnen, hofft die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Dafür sprechen Stimmen aus Netanjahus Likud-Partei, dass es im Krieg nicht an der Zeit sei, den Verfassungskonflikt auf die Spitze zu treiben. Den vernünftigen Kräften innerhalb der Koalition ist längst klar, dass die legislative Brachialität, mit der die Justizreform vorangetrieben wurde, in eine Sackgasse geführt hat. ... Ein Sieg ist das Urteil indes auch für die Gegner der Reform nicht. Das denkbar knappe Votum zeigt, dass es kein eindeutiges Richtig und Falsch gibt. ... Es wäre dem Land zu wünschen, dass es zumindest einen kleinen Schritt weit zurück auf den Weg des Ausgleichs findet.“