Zahllose Tote bei Hilfsgüterlieferung in Gaza
Bei der Ankunft einer Hilfsgüterlieferung im Norden des Gaza-Streifens sind laut Angaben des Hamas-kontrollierten Gesundheitsministeriums über 100 Palästinenser ums Leben gekommen. Noch ist unklar, was genau passiert ist: Israel bestätigt die Tragödie, weist aber Vorwürfe zurück, in die Menge geschossen zu haben. Für Kommentatoren ist der Vorfall sinnbildlich für die aktuelle Situation in Gaza.
Schiere Verzweiflung
Noch ist vieles unklar, betont Corriere della Sera:
„Die grauen, unscharfen Bilder israelischer Drohnen zeigen ein Gedränge unerkennbarer Körper, aber erkennbar ist die Verzweiflung der Hungernden, die sich um die Hilfsfahrzeuge scharen. Armeesprecher sagen, die Truppen hätten nur Warnschüsse abgegeben, um die Menge zu zerstreuen. Die Gestürzten seien im Gedränge zertrampelt worden. … Nach Angaben der Hamas, die die Israelis der Tötung von Zivilisten beschuldigt, starben mindestens 110 Menschen. US-Präsident Joe Biden sagte, seine Berater würden 'die widersprüchlichen Versionen' analysieren. Dazu kommt die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgt wird, um zu verhindern, dass sich der Schrecken des Krieges zu einer Hungersnot ausweitet - umso mehr, wenn Dschihadisten die Depots plündern.“
Möglicher Wendepunkt im Hinblick auf Waffenruhe
Dieser Vorfall könnte politische Folgen haben, meint The Times:
„Die Palästinenser behaupten, dass die Massenpanik durch israelische Truppen verursacht wurde, die in eine Menschenmenge schossen, die sich um einen Versorgungskonvoi versammelt hatte. Israel behauptet, mit der Panik nichts zu tun zu haben. Tatsache ist jedoch, dass eine große Zahl von Zivilisten getötet wurde, die für Lebensmittel anstanden. Das geschah in einem von den israelischen Streitkräften kontrollierten Gebiet, was Israel für ihren Tod verantwortlich macht. Dieser Vorfall wird mit ziemlicher Sicherheit den Druck auf die Regierung Netanjahu erhöhen, vor allem von Seiten der USA, in den kommenden Tagen einem Waffenstillstand zuzustimmen.“
Die tägliche Demütigung
Den Journalisten Sami al-Ajrami, der aus Gaza berichtet, überraschen in La Repubblica die Ereignisse nicht, sie seien
„[l]ediglich die Folge dessen, was in den letzten Wochen geschehen ist. Es ist eine Tragödie mit Ansage, nachdem die Bombardierungen zwar nachgelassen haben, aber unser Alltag sich nicht verändert hat. ... Wir leben weiterhin in Erwartung, ohne Zukunftsperspektive, immer bedroht vom Tod und eben auch vom Hunger. … Sicher ist, dass wir unsere Würde verlieren. Die humanitäre Hilfe reicht nur für zehn Prozent der Bevölkerung, und jedes Mal ist es ein Krieg zwischen uns, sie zu bekommen. ... Eine Demütigung, die dadurch ermöglicht wird, dass der Westen nicht protestiert.“
Vertrauen in die Zivilisation geht verloren
Der Rapper N'toko empört sich in seiner Kolumne in Mladina darüber, wie Länder, die sich auf die Rechtsstaatlichkeit berufen, dem Leid der Palästinenser tatenlos zusehen würden:
„Was in Gaza passiert, dreht einem nicht nur den Magen um, sondern man verliert auch jegliches Vertrauen in die Zivilisation, in den Staat und die Institutionen, in die Demokratie und die 'regelbasierte Ordnung'. Unsere liberalen Regime, die das letzte Bollwerk gegen das Abgleiten der Menschheit in die Barbarei sein sollen, haben sich als völliger Bluff erwiesen ... . So aussichtslos war die Lage schon lange nicht mehr.“