Orbán-Boykott: Borrell bittet Minister nach Brüssel
Nach dem von der EU-Kommission und mehreren nordeuropäischen Ländern angekündigten Boykott der ungarischen Ratspräsidentschaft hat auch EU-Chefdiplomat Josep Borrell ein für August in Budapest geplantes Außenministertreffen torpediert und lädt die Minister stattdessen nach Brüssel ein. Dass das Vorgehen umstritten ist – Länder wie Deutschland, Spanien und Luxemburg sind dagegen –, spiegelt sich auch in der Presse wider.
Den Konflikt in Budapest suchen und austragen
Der Tagesspiegel kritisiert den Boykott:
„Gerade dann, wenn sich die europäischen Partner über Orbán aufregen, müssen sie das am Ort anbringen. Heißt: Sie müssten jetzt erst recht nach Budapest reisen und dort der ungarischen Regierung klipp und klar die Meinung sagen. Man muss nicht so weit gehen wie Luxemburgs Außenminister Xavier Bettel und von 'Schwachsinn' reden. Aber von Scharfsinn kann auch nicht die Rede sein. ... Zumal die EU Ungarn schon vor der Übernahme der Präsidentschaft hätte stellen müssen. Orbán ist doch nicht erst seit gestern auf einem Ego-Trip und auf autoritär-autokratischem Kurs. Da muss man umgekehrt den Konflikt suchen und aushalten. Insbesondere, wo Ungarn die EU-Präsidentschaft doch nun innehat.“
Viel Gebell und nichts dahinter
Wieder einmal ist der ungarische Premier fast ungeschoren davongekommen, ärgert sich Corriere della Sera:
„Orbán wurde beschuldigt, seine Rolle weitgehend überschritten zu haben, er wurde der Illoyalität bezichtigt, ihm wurde mit Entzug des turnusmäßigen Vorsitzes gedroht und sogar mit der so genannten 'nuklearen Option', jenem nie angewandten Artikel 7 des Amsterdamer Vertrags, der die Aussetzung der EU-Mitgliedschaftsrechte für Staaten vorsieht, die die Werte der EU nicht respektieren. Am Ende viel Gebell und kaum etwas dahinter. Ungarn wird am 28. und 29. August eine ärgerliche, aber rein symbolische Niederlage erleiden: die Verlegung des informellen Rates der EU-Außenminister von Budapest nach Brüssel.“
Nur Warnung, aber ernsthaft
Ein Boykott wäre eine seltene und daher eine bedeutsame Warnung, meint hingegen Népszava:
„Der Boykott von informellen Gesprächen hat eher symbolische Bedeutung: Er behindert die Legislativarbeit nicht und trifft einen Mitgliedstaat nicht so hart wie irgendwelche finanziellen oder politischen Sanktion, deren Verhängung ohnehin viel Zeit brauchen würde. Da er aber von den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten nur sehr selten angewendet wird, ist er eine ernste Warnung und gleichzeitig ein Prestigeverlust für ein Land, das gerade eine wichtige Führungsposition der EU innehat.“
Das alte Dilemma mit Provokateuren
Der Standard erklärt:
„Ungarns Premier Viktor Orbán stellt die EU-Partner vor ein Dilemma. Es ist das alte Problem im Umgang mit Provokateuren und Krawallmachern: Lässt man sie gewähren, dann weiten sie ihren Aktionsradius aus – und damit den Raum dessen, was als politisch normal gilt. Weist man sie aber in die Schranken, muss man peinlich darauf achten, die Spielregeln zu befolgen und nicht weiter an der Aggressionsschraube zu drehen. Ansonsten: siehe Option eins. Das gilt insbesondere für den Umgang mit einem gewieften Taktierer wie Orbán.“