Wirtschaftspolitik: Bei wem kann Harris punkten?
Kamala Harris hat am Freitag ihr wirtschaftspolitisches Programm vorgestellt: Neben der Förderung von Familien und Steueranreizen zum Wohnungsbau stellt sie die Bekämpfung der Inflation ins Zentrum ihrer Kampagne. Exzessive Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Medikamenten will sie gesetzlich verbieten. Unter den Wählerinnen und Wählern sind solche Eingriffe laut Umfragen beliebt, in Europas Medien aber umstritten.
Falsche Rezepte
Für die Neue Zürcher Zeitung ist Harris' Wirtschaftsprogramm marktfeindlich:
„So korrekt Harris das drängendste Problem der Wähler erkennt, so falsch liegt sie mit ihren Rezepten. So setzt die Kandidatin auf staatlichen Dirigismus, auf eine Ausschaltung des Marktes und auf populistische Anklagen, bei denen Grossunternehmen grundsätzlich böse sind und nur kleine Tante-Emma-Läden das Gute verkörpern. Nirgends zeigt sich dies deutlicher als bei Harris’ Ankündigung eines 'landesweiten Verbots von Preiswucher bei Lebensmitteln'. Geht es nach Harris, sollen Firmen, die zu viel Geld für Lebensmittel verlangen, vom Staat bestraft werden.“
Keinen Deut besser als Trump
Berlingske zeigt sich vom Programm der Präsidentschaftskandidatin wenig beeindruckt:
„Laut der unabhängigen, politisch breit aufgestellten Organisation 'Committee for a Responsible Federal Budget' (CRFB) werden Harris' Pläne das amerikanische Haushaltsdefizit im Laufe der kommenden zehn Jahre um 1.700 Milliarden Dollar anwachsen lassen. ... Das Problem ist: So präzise Harris benennt, wie viel Geld sie ausgeben will, so unkonkret und unpräzise bleibt sie hinsichtlich der Finanzierung. Es gibt gar keine Finanzierung – da sind lediglich ein paar Signale, dass die Reichen und die großen Unternehmer mehr Steuern zahlen sollen. ... In Sachen ökonomische Verantwortung ist Harris keinen Deut besser als Trump.“
Gesucht: Präsidentin der goldenen Mitte
Harris braucht eine klare, gemäßigte Linie, urteilt Le Figaro:
„Egal ob man Donald Trump liebt oder hasst, kann man sich gut vorstellen, in welche Richtung das Land gehen würde, falls er wieder ins Weiße Haus einzieht. Die ehemalige Senatorin hingegen hat ihre Meinung oft geändert: Sie vermittelt immer noch den Eindruck von Opportunismus, den ihre Anhänger als Pragmatismus bezeichnen. Harris hat das schwere Handicap, eine Demokratin aus Kalifornien zu sein, dem Staat aller 'Woke'-Exzesse. ... Es liegt an ihr, die Wähler davon zu überzeugen, dass sie eine Präsidentin der goldenen Mitte sein kann: progressiv in Bezug auf individuelle Rechte, moderat in ihren wirtschaftlichen Entscheidungen und liberal in Bezug auf Regelungen.“
Politisch kluge Themensetzung
Der Standard freut sich über die inhaltlichen Akzente:
„Harris hat ... Freitagabend ihre Vorschläge zu einem leistbaren Leben der Mittelschicht präsentiert. Sie setzt dabei auf populäre Alltagsthemen wie leistbares Wohnen und Inflationsbekämpfung. Und sie setzt sich damit auch fast geräuschlos von Präsident Joe Bidens Bilanz ab. Beides ist politisch klug. Für die Demokraten ist der Parteitag eine einmalige Gelegenheit, gegen Trump – der bisher fast nichts Konkretes präsentiert hat – noch viel mehr inhaltliche Akzente zu setzen. Sie sollten sie nutzen.“
Keine Garantie für einen Sieg
Ein linkeres Programm als das von Biden hält Les Echos für einen gewagten Ansatz:
„Harris mobilisiert Wählerschaften, von denen sich die Republikaner am 5. November eine relative Passivität erhofften: Frauen, Schwarze und junge Menschen. Und sie widerlegt derzeit die Bedenken der demokratischen Parteigrößen, die befürchteten, sie habe weder die Zeit noch das Talent, um sich durchzusetzen. All dies ist jedoch keine Garantie für einen Sieg in weniger als 80 Tagen. Ihr Programm, das weiter links steht als das von Biden, könnte die unentschlossenen Wähler beunruhigen.“
Das Schwierigste liegt noch vor ihr
Vor Kamala Harris stehen weiter große Herausforderungen, schreibt Rzeczpospolita:
„Der Neuigkeitseffekt ist vergänglich. Die Wirtschaftslage bleibt ungewiss. Die Vizepräsidentin hat sich bisher auch noch nicht getraut, sich einem echten Interview zu stellen, und eine Debatte mit Trump steht auch noch nicht auf ihrem Kalender. Sie wird sich dann zu Themen verteidigen müssen, die ihr unangenehm sind, wie das Scheitern der Migrationspolitik oder die weithin spürbare Teuerung. Harris hat bemerkenswert viel erreicht. Aber das Schwierigste liegt noch vor ihr.“
Lieber der Zentralbank vertrauen
Dass Harris den Schwerpunkt auf die Inflationsbekämpfung legt, hält de Volkskrant für keine gute Idee:
„In Zeiten von Inflation müssen Politiker gerade zurückhaltend sein und der Zinspolitik ihrer Zentralbanken vertrauen. … Ja, die Preise sind in den vergangenen Jahren um etwa 20 Prozent gestiegen, aber zugleich ist auch das Einkommen und die Zahl der Arbeitsplätze stark gewachsen. Regierungen müssen nicht so viel tun. Das ist eine unbequeme Botschaft, denn der Schmerz der Inflation wiegt bei vielen Wählern deutlich schwerer als die Vorzüge von höheren Löhnen. Man kann also verstehen, dass Harris zumindest den Eindruck erwecken will, dass sie die hohen Preise angehen wird.“
Ende einer Ära
Zwei gegensätzliche Wirtschafts- und Sozialmodelle werden im Wahlkampf in den Blickpunkt gerückt, analysiert La Repubblica:
„Das von Donald Trump, der auf eine Stärkung des libertären Kapitalismus und des Unbehagens setzt, um Stimmen zu gewinnen. Und das von Kamala Harris, die auf das Versprechen setzt, der Mittelschicht mit mehr Staatsinterventionismus unter die Arme zu greifen. Gleichzeitig scheint es, als sei das Ende einer Ära erreicht: Nach 40 Jahren geht dem ausgereiften kapitalistischen Modell von Reagan der Atem aus. Dasselbe gilt für das Wachstum: Wir sind in die Spätphase des Konjunkturzyklus eingetreten, und manche, wie Paul Krugman, sprechen von einer Rezession. Das Gleiche gilt für den Aktienmarkt: Nach Jahren kontinuierlicher Anstiege könnte die Spätphase der Rally erreicht sein.“