Die Stimme des schlechten Gewissens
Selbst mit seinem Bekenntnis, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, hat Günter Grass den Status einer Moralinstanz nie verloren, würdigt der öffentlich-rechtliche Deutschlandfunk sein Wirken als politischer Autor: "Ohne sich selbst in eine Opferrolle hineinzuinterpretieren war und bleibt Günter Grass die unüberhörbare Stimme des schlechten Gewissens, der Läuterung und Neubesinnung des schuldig gewordenen deutschen Nazi-Volkes. ... Er war unbequem bis zuletzt, für sich und die anderen. Sein Bekenntnis, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, ... passte zunächst betrachtet so gar nicht zu der Vita des als Moralinstanz daherkommenden Nobelpreisträgers, sehr wohl aber zur Lebensbefindlichkeit einer ganzen Nachkriegsgeneration von Deutschen, die, wie Grass es einmal formulierte, diesem verbrecherischen Regime aufgesessen waren. ... Grass hat das einzig Richtige getan, was ... zu wenige Schöngeister aus dem schreibenden Gewerbe tun: er hat sich eingemischt, seine Meinung offensiv und manchmal auch übertrieben drastisch nicht hinterm Berg gehalten."
Verkörperung der deutschen Geschichte
Günter Grass gehörte zu den wertvollsten "Markenzeichen" der deutschen Nachkriegskultur, würdigt die konservative Lidové noviny den am Montag verstorbenen Literatur-Nobelpreisträger: "Grass war nicht 'nur' ein Schriftsteller. Er war gleichzeitig auch das Symbol des politisierenden Intellektuellen, der die deutsche Nachkriegsdemokratie repräsentierte: unbequem, ein prinzipiell bürgerlich denkender Kritiker, ein Querulant und gleichzeitig ein Freund von Politikern wie Willy Brandt. Grass war ein Stück deutsche Geschichte, kompliziert und voller Widersprüche, wie diese Geschichte schwer zu begreifen und zu akzeptieren. Das Schwergewicht aber liegt in seiner Literatur. Grass hat seinen genialen Debütroman Die Blechtrommel nie übertreffen können. Das hat damit zu tun, dass eine Konstellation einmalig und unwiederholbar sein kann. 'Die Blechtrommel' aber hat genügt, den Thron der deutschsprachigen Literatur zu besteigen."
Trotz Irrtümern moralische Instanz
Günter Grass erwarb sich durch seinen Rang als bewusstseinsschaffender Intellektueller das Recht auf Irrtum, schreibt die liberal-konservative Tageszeitung Die Presse: "Mit seiner Sicht, die deutsche Wiedervereinigung sei ein 'hässlicher' Irrtum, lag Grass gründlich daneben. Sein Bekenntnis, dass er als ahnungsloser Jüngling bei der Waffen-SS war, erfolgte sehr spät für einen, der so viele wegen ihrer Vergangenheit so gnadenlos kritisiert hatte. Und für sein Strafgedicht, in dem er Israel mit dem Iran gleichsetzte, hätte er seine 'letzte Tinte' besser nicht vergossen. Musste das 'altlinke Fossil', als das er sich sah, den Mund so weit aufreißen? Hatte er das moralische Recht zum Moralisieren? Und ob. Denn Grass hatte sich die Lizenz für Irrtümer erkämpft - durch seinen Rang als Intellektueller. ... Er schuf in seinen Hauptwerken ein gemeinsames Bewusstsein für die Vergangenheit, die Schuld und die Verantwortung, die daraus erwächst."
Wie Oskar trommelte Grass immer weiter
Nicht alle werden um den streitbaren Schriftsteller Günter Grass trauern, meint Adam Michnik, Chefredakteur der liberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza: "Deutsche Nationalisten können aufatmen, während deutsche und polnische Demokraten in Trauer vereint sind. Grass war das Gewissen der deutschen und europäischen Demokratie. ... Er konnte sehr genau die Ressentiments der Nazitradition im öffentlichen Leben Deutschlands demaskieren. Er war ein Feind aller totalitären Systeme, ein Sozialdemokrat und Antikommunist, ein sturer Junge, der nicht erwachsen werden wollte - so wie der kleine Held in der Blechtrommel. ... Als Teenager, erzogen im Geiste nationalsozialistischer Propaganda, meldete er sich freiwillig zur Armee. Dies wurde ihm Jahre später wütend vorgehalten - die Rache für seinen Nonkonformismus, sein schriftstellerisches Talent und seinen Mut."