Flüchtlingskrise belastet Europa
Täglich flüchten Menschen vor Krieg und Armut und suchen Schutz in Europa. Zwischen den EU-Mitgliedstaaten herrscht Streit über Aufnahmequoten, die Behörden sind oft überfordert, Teile der Bevölkerung lehnen Asylbewerber ab. Beim Umgang mit den Flüchtlingen steht Europas moralische Glaubwürdigkeit auf dem Spiel, meinen Kommentatoren und blicken mit Sorge in die Zukunft.
Europa darf keine Festung sein
Die Tendenz in vielen Staaten Europas, sich gegenüber Flüchtlingen abzuschotten anstatt ihnen zu helfen, ist beschämend, meint Kolumnistin Martina Devlin in der konservativen Tageszeitung Irish Independent: "Warum herrscht diese Geisteshaltung einer Festung Europa vor, obwohl doch weithin akzeptiert wird, dass es sich bei dem, was an den Küsten passiert, um eine Notsituation handelt? ... Auch wenn diese Menschen keinen Rechtsanspruch darauf haben, in Europa zu sein, haben sie nicht zumindest einen moralischen Anspruch auf Schutz? Verschafft ihnen nicht allein die Tatsache, dass sie ebenfalls Menschen sind, dieses Anrecht? Vor 70 Jahren, nach Ende des Zweiten Weltkriegs mussten sich viele Länder fragen, ob sie genug getan hatten, um den Holocaust zu verhindern. Einige mussten beschämt den Kopf hängen lassen. Nun ist es Zeit, die gleiche Frage zu stellen."
Unsere Psyche vermodert im goldenen Käfig
Mit der Abschottung vor den Flüchtlingen verrät Europa permanent seine moralischen Werte, was für die Psyche des Kontinents nicht gut sein kann, meint der Politologe Fernando Vallespín in der linksliberalen Tageszeitung El País: "Ironischerweise reagiert man in Brüssel auf das Problem, als ob es lediglich um eine reine Verwaltungsangelegenheit ginge, die man löst, indem man auf möglichst effiziente Weise die Grenzen verschließt. Man ignoriert die eigentliche Dimension der Angelegenheit: die humanitäre Krise, die uns einen moralischen Ruck versetzen müsste, damit wir unsere Werte nicht aufgeben müssen, die wir vorgeben zu haben. ... Wir sind zu Gefangenen unseres eigenen Erfolgs geworden. Wir bewohnen einen vermeintlich goldenen Käfig, dessen Gitterstäbe die anderen ausgrenzen sollen, während sie gleichzeitig diejenigen einsperren, die doch eigentlich davon profitieren wollen. Es ist, sagen wir, eine Art psychologische Gefangenschaft, aber deswegen nicht weniger real. Gibt es etwa etwas Schlimmeres, als im permanenten moralischen Widerspruch zu leben?"
Heutige Flüchtlingswelle ist erst der Anfang
Die gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa sind erst der Anfang, stellt die Tageszeitung Új Szó mit Blick auf eine UNO-Prognose fest: "Im Zeitraum 2010-2015 wanderten pro Jahr im Schnitt 4,1 Millionen Menschen aus den Entwicklungsländern in die Industriestaaten aus. Bis zum Jahr 2050 sind weitere 91 Millionen Flüchtlinge zu erwarten. ... Die zu erwartende Bevölkerungsentwicklung ist auch besorgniserregend. Während die Bevölkerung Europas (heute: rund 738 Millionen) stagnieren wird, wird die Bevölkerung Afrikas laut UNO-Prognose von heute 1,2 Milliarden auf 2,5 Milliarden steigen. ... Die heutige dramatische Flüchtlingswelle ist demnach ein schwacher Vorgeschmack darauf, was auf den alten Kontinent noch zukommen wird. Sollten die Prognosen der UNO zutreffen, werden wir Europa nicht wiedererkennen. Die Einwanderer und ihre Nachfahren werden in vielen EU-Mitgliedstaaten bereits 2050 in der Mehrheit sein."