Orbán und Kohl als Europäer vereint?
Der ungarische Premier Viktor Orbán hat Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl am Dienstag einen Privatbesuch abgestattet. Zur Flüchtlingspolitik Angela Merkels fanden sie mahnende Worte, echte Kritik gab es nicht. Viele Kommentatoren sehen das Treffen positiv und mahnen, dass viele Deutsche dazu neigen, Mitbürger in Ländern wie Ungarn als schlechte Europäer abzustempeln.
Hat der Meister den Schüler zur Räson gebracht?
Das Treffen von Kohl und Orbán dürfte angesichts der jovialen Töne des ungarischen Premiers an die Adresse von Angela Merkel wie ein Lehrgespräch zwischen Meister und Schüler verlaufen sein, mutmaßt der Kolumnist der regierungskritischen Wochenzeitung hvg, László Seres, und gibt eine fiktive Kostprobe der Unterhaltung:
„An einem Punkt des spirituellen Zwiegesprächs erhob sich der Meister in seinem Wohnzimmer, um seinem Gast als schwebender Geist verständlich zu machen, er möge doch der starken Frau Europas, der deutschen Kanzlerin, nicht in den Rücken fallen. Der Schüler stellte daraufhin entgeistert die Frage, welche Kanzlerin er denn unterstützen solle, jene der Willkommenskultur, jene der Flüchtlingsquote oder gar jene des vereinten Europas? Helmut Kohl erwiderte mit ätherischer Stimme: 'Sei kein Narr! Denk doch bloß an die üppigen Kohäsionsgelder aus der EU, hm? Überlass die Migranten uns, zu Euch will doch ohnehin niemand.' Worauf er sachte wieder auf seinem Rollstuhl landete.“
Europa kann bis heute von Kohl lernen
Dass Europa sich auf Kohls Verständnis der europäischen Einheit zurückbesinnen sollte, findet die Neue Zürcher Zeitung:
„Orbán brachte die frisch gedruckte ungarische Übersetzung von Kohls 2014 herausgekommenem Buch 'Aus Sorge um Europa' mit. Dieses enthält ein neues Vorwort Kohls. Darin schreibt er warnend, der Rückfall in altes, nationalstaatliches Denken sei keine Option. Europa müsse wieder verstärkt an einem Strang ziehen, jeder müsse die gemeinsamen Regeln einhalten. Es brauche mehr Verlässlichkeit und Berechenbarkeit im Umgang miteinander. Das kann als Mahnung sowohl an Merkel, deren kompromisslose Politik der offenen Grenzen von vielen in Europa als Zumutung empfunden wurde, wie auch an Orbáns übersteigertem Nationalismus verstanden werden. Europa hätte viel gewonnen, wenn es sich auf Kohls Verständnis von Einheit und Solidarität zurückbesänne.“
EU hat auch ein Deutschland-Problem
Ein Treffen ausgerechnet mit Orbán - für das Handelsblatt ist das genau der richtige Ansatz:
„Denn in Wahrheit hat Europa nicht nur ein Ungarn-Problem. Europa hat auch ein Deutschland-Problem. Die deutsche Öffentlichkeit und in der Folge leider oftmals auch die deutsche Politik neigen dazu, all jene als schlechte Europäer abzustempeln, die die Welt ein klein wenig anders sehen als wir. ... Orbán ist ein demokratisch gewählter Regierungschef. Und manche echten Diktatoren in anderen Teilen der Welt müssen sich deutlich weniger Kritik aus Deutschland anhören als er. Um das europäische Projekt nicht scheitern zu lassen, sollten wir Deutschen endlich lernen, gelassen und vertrauensvoll mit demokratisch gewählten Politikern anderer EU-Mitgliedstaaten umzugehen, die zum Teil andere Wertvorstellungen und eine andere Politik vertreten als wir.“