Johnson will nicht Cameron-Nachfolger werden
Boris Johnson bewirbt sich nicht um das Amt des britischen Premiers. Er sei nicht in der Lage, das Land zu einen, sagte der prominenteste Brexit-Verfechter und ehemalige konservative Bürgermeister Londons am Donnerstag. Wurde er das Opfer einer Intrige bei den Tories?
Shakespeare-Drama in Westminster
Der Schlagabtausch bei den Tories erinnert den Corriere del Ticino an ein Drama von Shakespeare, in dem die Absage von Johnson die dramatischste Wendung darstellt:
„Es ist wohl kaum der edle Verzicht auf die Beute nach dem Sieg des Referendums, bestimmt von altruistischen Gefühlen den Parteikollegen gegenüber. Eher dürfte Johnson Opfer eines Komplotts geworden sein. Die mutmaßlichen Drahtzieher könnten drei gewesen sein: Cameron, der sich an Johnson rächen will, oder der Medienmogul Rupert Murdoch, der in Großbritannien die Blätter The Sun, News of the World, The Times und The Sunday Times kontrolliert und wenig Sympathie für Johnson hegt. Und schließlich der Justizminister Michael Gove, der gestern seine eigene Kandidatur bekannt gab. Gove ist dem Freund in den Rücken gefallen und hat den entscheidenden Dolchstoß gesetzt mit den Worten, er halte Johnson als Premier für ungeeignet. Wie bei Richard III. sind alle Mittel recht, um die Krone zu erlangen.“
Spannender als House of Cards
Nach dem überraschenden Rückzug von Johnson ist das Chaos in London komplett, stellt De Standaard fest:
„Die Drehbuchschreiber von House of Cards werden arbeitslos, das Netflix-Abo kann man kündigen. Serien-Junkies mit einer Vorliebe für politisches Drama schauen nun rund um die Uhr BBC World. Spannung ist garantiert, und es ist auch noch gratis. Das unerwartete Ja beim Brexit-Referendum hat die britische Politik in ein Chaos gestürzt. Sowohl bei den regierenden Konservativen als auch bei Labour ist eine Führungskrise ausgebrochen, deren Ende nicht vorhersehbar ist. ... Wer wagt etwa noch zu behaupten, dass David Cameron, dessen traurige Leiche wir in der vorigen Folge sahen, wirklich politisch tot ist? ... Nachdem nun jeden Tag deutlicher wird, dass die Ereignisse unvorhersehbar sind und ein Brexit verschiedene Formen haben kann, scheint keine Änderung im Script noch unrealistisch zu sein.“
Großbritannien braucht Ideen statt Intrigen
Beim Ringen um die Nachfolge von David Cameron dürfen nicht länger persönliche Rivalitäten im Vordergrund stehen, mahnt The Independent:
„Jetzt ist es entscheidend, dass sich diese Situation von einem Konflikt der Persönlichkeiten, der in diesen vergangenen Tagen unvermeidbar war, zu einer Auseinandersetzung der verschiedenen Visionen für ein Großbritannien im 21. Jahrhunderts weiterentwickelt. Wenn Michael Gove heute zu seiner Kandidatur Stellung nimmt, sollte er dabei nicht so sehr auf seinen neuen Ruf als brutalster Attentäter von Westminster eingehen, sondern vielmehr erklären, wohin er Großbritannien führen will und wie er dorthin kommen will. Wie möchte er sicherstellen, dass Globalisierung und Technologie nicht die Lebenschancen der Armen in Großbritannien zerstören? ... Auch wenn uns das Verhalten dieses modernen Brutus fasziniert, sollte es uns in den kommenden Tagen doch vor allem um ein modernes Großbritannien gehen.“
Keine Lust auf mühsames Premiers-Amt
Das Amt des Premiers ist Boris Johnson schlicht zu langweilig, spekuliert der liberale Kurier:
„Die ernsthafte Auseinandersetzung mit Themen, also die lästige Sachpolitik, hat den ehemaligen Londoner Bürgermeister nie interessiert. Nicht umsonst geht in politiknahen Kreisen in London das Gerücht um, Johnson habe nie ernsthaft mit einem Sieg der EU-Gegner beim Referendum gerechnet. Sein Ziel sei eine knappe Niederlage gewesen. So hätte er einen respektablen Erfolg erzielt und Premier Cameron weiter vor sich hertreiben können. Ganz so wie er es auf jedem Parteitag der Konservativen der letzten Jahre gemacht hat, als er im Jubel der Parteikollegen badete. Doch mit dem tatsächlichen EU-Austritt vor Augen, wurde Johnson wohl klar, dass nicht nur ernsthafte und mühsame Verhandlungen mit einem mehr als ungewissen Ausgang auf den neuen britischen Premier warten, sondern auch ein mühsamer Kampf um den Sessel des Partei- und Regierungschefs. Das alles liegt dem genialischen Showmaster nicht.“
Ein rücksichtsloser Populist
Dass Johnson, der die Kampagne für den Brexit wesentlich vorangetrieben hat, jetzt nicht Tory-Chef und Premier werden will, zeigt laut Politiken, wie er sich der Verantwortung verweigert:
„Boris Johnson könnte es vielleicht aus parteitaktischen Gründen schwerfallen, die Wahl als Parteichef zu gewinnen. Aber dass er nicht einmal antritt, lässt den ehemaligen Londoner Bürgermeister offen als das dastehen, dem er von Beginn an ähnelte: einem rücksichtslosen Populisten. Wenn er wirklich aus vollem Herzen der Ansicht wäre, dass der Brexit neue Chancen für das alte Imperium schafft, sollte er bleiben und kämpfen.“
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