Verleiht Tajani EU-Parlament neue Rolle?
Der italienische Konservative Antonio Tajani ist neuer Präsident des EU-Parlaments. Der frühere EU-Industriekommissar setzte sich mit Unterstützung der Liberalen in der Stichwahl gegen den Sozialisten Gianni Pittella durch. Während einige Kolumnisten Tajanis Einfluss für äußerst begrenzt halten, sehen andere in seiner Wahl eine Stärkung des Parlaments.
Neues Kräftespiel ist Chance für EU-Parlament
Das Ringen um den neuen Präsidenten hat frischen Wind ins EU-Parlament gebracht, der hoffentlich zu einer besseren Politik führt, meint Financial Times:
„Wenn ein politisch gespaltenes Parlament einen Präsidenten wählen muss, dann ist ein bisschen Kuhhandel immer unvermeidlich - und das kann einen unerwarteten neuen Chef bringen. Im Fall des Aufstiegs von Antonio Tajani hat das politische Feilschen wenigstens zu einem Ergebnis geführt, das einer echten Debatte und nicht zynischem Konformismus zuträglich ist. Es muss sich erst noch zeigen, ob die neue regierende Koalition ihre Aufgabe, der Kommission auf die Finger zu klopfen und die Interessen von Europas Wählern zu vertreten, besser erfüllen kann. ... Der Wechsel von einer großen Koalition zu einer mit einer ausgeprägten politischen Identität macht Hoffnung, dass ein oft übersehener Teil der EU-Maschinerie künftig eine konstruktivere Rolle spielen kann.“
Pseudo-Konservative dominieren Europa
Ungeachtet der Wahl Tajanis wird die Marschroute der EU weiterhin von Merkel und Juncker bestimmt, die ihre konservativen Werte über Bord geworfen haben, kritisiert die rechtskonservative Tageszeitung Magyar Idők:
„Geben wir uns keinen Illusionen hin: Weder die Wahl von Tajani noch die Stärkung der europäischen Rechten und der Europäischen Volkspartei werden die Politik und Ausrichtung Europas ändern. Vergessen wir nämlich nicht: Die zwei führenden Politiker der europäischen Rechten sind Angela Merkel und Jean-Claude Juncker. Noch dazu sind ihre Macht und ihr Einfluss durch den Brexit und die sukzessive Schwächung Frankreichs und Italiens gewachsen, was keineswegs erquicklich ist. Merkel und Juncker haben ihre traditionellen rechten Werte verraten. Sie stehen heute für einen labberigen Liberalismus, eine gesichtslose Globalisierung, einen gescheiterten Multikulturalismus sowie ein ziel- und werteloses schwaches Europa.“
Großartige Nachricht aus Straßburg
Die Wahl Tajanis ist der Beginn einer neuen politischen Kultur im EU-Parlament, freut sich Hospodářské noviny:
„Mit dieser Wahl zerfällt endlich die unheilige Koalition der beiden größten Fraktionen - der Christdemokraten und der Sozialisten. Die hatten bisher unter sich den Posten des Parlamentspräsidenten ausgehandelt, egal wie die Wahl ausgegangen war. Das hat zum mageren Interesse der Europäer am Parlament beigetragen, der einzigen direkt gewählten EU-Institution. Jetzt zerstritten sich die Sozialisten mit den Christdemokraten, und die zauberten Tajani aus dem Hut und begannen etwas, was dem Parlament so lange fehlte - normale Politik zu machen. ... Also, willkommen, Herr Tajani. Sie bedeuten für die europäische Politik sehr viel mehr, als man Ihnen auf den ersten Blick ansieht. Ihre Wahl an die Spitze der immer mächtiger werdenden Institution des Parlaments ist eine großartige Nachricht.“
Parlament braucht jetzt bescheidenen Chef
Der neue Parlamentspräsident muss bescheidener auftreten als sein Vorgänger Martin Schulz, fordert NRC Handelsblad:
„Von Schulz durfte man eine bescheidene und politisch neutrale Rolle erwarten. ... Doch das Gegenteil war der Fall. ... Als Vorsitzender erlaubte er sich mehr als einmal sehr weitgehende politische Aussagen, die bei weitem nicht von allen Mitgliedern geteilt wurden. ... Man kann nur hoffen, dass sich der jetzt gewählte Vorsitzende Tajani an sein Versprechen halten wird und sich nicht als 'Premier Europas' aufspielen wird. Er muss das gesamte Parlament vertreten. Das heißt: Er muss sichtbar sein, wenn es um das Parlament als Institution geht, aber unsichtbar bei europäischen politischen Fragen.“
Neuer Präsident muss vermitteln können
Dass sich Tajani wohl weniger in Szene setzen wird als sein Vorgänger Schulz, empfinden die Salzburger Nachrichten nicht als Nachteil:
„Die größere Rolle ... , die das EU-Parlament im Gesetzgebungsprozess seit dem Lissabon-Vertrag spielt, bleibt auch nach dem Wechsel von Schulz zu Tajani an der Spitze erhalten. Wie gut es diese Macht nutzt, hängt weniger vom Präsidenten ab als von der parlamentarischen Arbeit. Und die könnte nach Schulz sogar besser werden. Jedenfalls wird es wohl keine Hinterzimmer-Absprachen zwischen Parlaments- und Kommissionspräsidenten mehr geben. ... Bei wichtigen Fragen wie Migration oder Terrorbekämpfung dürften die Gräben eher zwischen EU-Skeptikern und EU-Befürwortern oder zwischen Ost und West verlaufen als zwischen den politischen Gruppen. So gesehen braucht das Parlament ... einen Vermittler zwischen diesen Fronten.“
Das linke Lager ist der große Verlierer
Antonio Tajani wurde mit Hilfe der Stimmen der Liberalen gewählt. Gość Niedzielny freut sich über diese neue Koalition:
„Genau in dem Moment, wo die Demokratie dabei ist, sich wesentlich zu verändern [Aufkommen der Populisten], verliert die Linke am stärksten. Bis vor kurzem konnten die Europäer nur zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten wählen. Jetzt könnten auch der Front National oder Movimento 5 Stelle an die Macht kommen, die den Eliten entgegentreten. Und gerade jetzt zerplatzt diese alte große Koalition, die bislang über die Postenverteilung in der EU entschieden hat. Die neue Koalition von Christdemokraten und Liberalen, die sich nun gebildet hat, passt programmatisch besser zusammen und sie können besser zusammenarbeiten als Parteien aus gegnerischen Lagern. ... Und Opfer dieser neuen Koalition sind die Linken.“
Fraktionen schlucken giftige Kröte
Tajani ist für alle Seiten ein schlechter Kompromiss, analysiert Spiegel Online:
„'Das ist die Kröte, die wir schlucken müssen', sagte FDP-Mann Alexander Graf Lambsdorff. ... Die Liberalen haben EVP-Fraktionschef Weber damit aus einer unangenehmen Lage befreit. Schon die Kandidatenkür Tajanis galt fraktionsintern als Niederlage Webers. ... Auch Alde-Chef Verhofstadt brauchte dringend einen Erfolg. Erst kurz zuvor war er auf desaströse Art mit dem Versuch gescheitert, die populistische Fünf-Sterne-Bewegung in seine Fraktion zu holen. Am Dienstag zog Verhofstadt seine eigene Präsidentschaftskandidatur zurück. ... Die großen Verlierer sind indes die Sozialdemokraten. Deren Fraktionschef Gianni Pittella hatte die Vereinbarung mit der EVP aufgekündigt, den Präsidentenposten nach dem Weggang von Martin Schulz den Konservativen zu überlassen. Jetzt ist Tajani trotzdem Parlamentspräsident, die große Koalition aber ist passé.“
Euroskeptiker werden zum Zünglein an der Waage
Die Wahl des neuen EP-Präsidenten ist ein Geschenk an die Fraktion der Euroskeptiker, schimpft Il Sole 24 Ore:
„Nach dem Bruch der großen Koalition von Konservativen und Sozialisten - mit 406 von insgesamt 751 Stimmen die beiden stärksten Fraktionen des Parlaments - beginnt der zweite Teil dieser Legislaturperiode mit dem Pakt der konservativen EVP mit den Liberalen, die gemeinsam nur 285 Stimmen haben. Die Zahl spricht für sich und besagt, dass das neue Bündnis auf stürmischer See auf Sicht fährt, gezwungen, von Mal zu Mal verschiedene politische Mehrheiten auszuhandeln, um die Zustimmung für eine Gesetzesverordnung einzuholen. Somit wird dem Heer der Euroskeptiker, den zirka einhundert Abgeordneten, unvermeidbar die Macht verliehen, die Gesetzgebung zu unterbinden.“