Geburtsstunde einer Bewegung gegen Erdoğan?
Der "Marsch für Gerechtigkeit" in der Türkei hat nach 450 Kilometern am Wochenende Istanbul erreicht. Geschätzte 1,6 bis 2 Millionen Menschen kamen zur Abschlusskundgebung, auf der Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der größten Oppositionspartei CHP, ankündigte, dies sei erst der Beginn einer neuen Bewegung. Journalisten fragen, was die türkische Opposition erreichen kann.
Marsch hat Menschen in der Türkei vereint
Der Marsch hat einer breiten Basis in der Gesellschaft gut getan und Gräben überwunden, ist Diken überzeugt:
„Es wurde deutlich, dass die Opposition trotz der Unterdrückung und Einschränkungen handeln kann. ... Dieser Marsch hat uns gezeigt, dass es doch nicht so schwer ist, die gesamte Gesellschaft anzusprechen, sie in Bewegung zu setzen, sie unter einem Gefühl zu vereinen. Er hat uns gezeigt, wie viel Gehör ein Anliegen findet, wenn keine diskriminierenden Slogans, Symbole und Begriffe verwendet werden. Er hat uns gezeigt, dass unterschiedliche Gruppierungen, die alle der Diskriminierung und der ideologischen, religiösen und konfessionellen Streitereien überdrüssig sind, für eine gemeinsame Sache zusammenkommen können.“
Der Palast schweigt
Für La Stampa war der "Marsch der Gerechtigkeit" unerwartet erfolgreich:
„Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu hat es geschafft. Er ist nicht nur 25 Tage lang 450 Kilometer unter dem Banner der 'Gerechtigkeit' marschiert, sondern es sind ihm auch Tausende Menschen gefolgt. So wurde der Marsch wider alle Erwartungen zum Erfolg. Der Gandhi der türkischen Politik, wie ihn die lokalen Medien ob seiner Friedfertigkeit nennen, hat seinen Marsch gestern im asiatischen Teil von Istanbul beendet. Hier versammelte sich eine riesige Menschenmenge. Nur folgte sie diesmal nicht wie gewöhnlich Erdoğan, sondern versammelte sich gegen ihn. ... Von Erdoğan, vom 'Palast', vorerst nur Schweigen. Laut vieler ein Zeichen großer Beunruhigung.“
Noch darf man frei herumlaufen
Der Standard hingegen glaubt, dass der Marsch vorläufig keine Veränderung bewirken wird:
„Die autoritäre Herrschaft des türkischen Staatspräsidenten scheint schon so zementiert, dass Kılıçdaroğlus 'Gerechtigkeitsmarsch' ins Leere läuft: Der Chef der größten Oppositionspartei hat den Beweis angetreten, dass er in Erdoğans Türkei noch frei herumlaufen darf, bei Wind und Wetter, wenn es ihm denn beliebt, und mit einem kleinen Schild in der Hand. Das war's. ... Mindestens die Hälfte der Türken stützt noch die autoritäre Herrschaft ihres Staatspräsidenten. Noch hat sie kein Problem mit Tayyip Erdoğans Stil - seiner Festlegung, welche Meinung frei ist und welche nicht“
Erdoğan sollte lieber zuhören
Das Handelsblatt empfiehlt Erdoğan, den Protest ernst zu nehmen:
„Sonst droht ihm das, was er als allmächtiger Präsident unbedingt verhindern will: eine veritable Opposition. ... Denn bei dem Marsch laufen mitnichten nur Anhänger der größten Oppositionspartei CHP mit, deren Parteichef den Marsch initiiert hat. Sondern auch Angehörige von Soldaten, die im breit unterstützten Kampf gegen die PKK gefallen sind; Anwälte, die auf die miserablen Zustände im Justizwesen aufmerksam machen wollen. ... Würde Erdoğan auf die Belange dieser Menschengruppen eingehen - und sei es nur aus taktischen Gründen -, hätte er eine Chance, seine gewünschte Mehrheit zu halten und sogar noch auszubauen.“
Hand in Hand mit Putschisten und Terroristen
Der Oppositionsführer diskreditiert sich mit seinem Marsch für Gerechtigkeit, wettert die regierungstreue Tageszeitung Yeni Şafak:
„Kılıçdaroğlu behauptet, gegen den Putsch zu sein, aber gleichzeitig bezeichnet er die Entscheidungen, die teils vom Staat, teils von den Gerichten zur Säuberung der Putschisten aus den Staatsreihen getroffen wurden, als 'ungerecht'. Als sei dies nicht bereits ein großer Widerspruch, initiiert er auch noch einen Protestmarsch von Ankara nach Istanbul. ... Und das tut er nicht allein. Kılıçdaroğlu marschiert mit Gülen-Terroristen und der PKK Hand in Hand und fordert Gerechtigkeit! ... Das Verhalten von Kılıçdaroğlu wird nicht in guter Erinnerung bleiben.“
Eine rein parteistrategische Veranstaltung
Für die regierungsnahe Tageszeitung Star dient der Protestmarsch bloß dazu, CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu das Image eines türkischen Gandhis zu verschaffen:
„Die CHP marschiert unter dem Motto 'Wir fordern Gerechtigkeit', ihr Marsch ist aber kein Marsch der ganzen Bevölkerung. Er betrifft nur die CHP-Parteifreunde, die Anhänger der Gülen-Terrororganisation, die Feinde Erdoğans und Gegner der AKP. Deshalb kann dieser lange Marsch der CHP keine allgemeine Welle der Aufregung in der Öffentlichkeit erzeugen. Er kann lediglich dazu dienen, die Kader der CHP zu aktivieren. Sein größter Nutzen ist es vielleicht, die Kandidatur von Kılıçdaroğlu auf dem kommenden Parteikongress zu konsolidieren und unstrittig zu machen. Achten Sie auf das Foto vom Protestmarsch. Kılıçdaroğlu läuft mehrere Meter vor seinen Abgeordneten. Dieser Marsch wurde organisiert, um das Bild von Kemal Gandhi zu schaffen.“
CHP trägt Mitschuld am eigenen Unglück
Der Journalist Hasan Cemal verurteilt auf T24 die Festnahme Berberoğlus, erinnert aber auch daran, dass die CHP selbst einst für Erdoğans Vorschlag stimmte, die Immunität von Abgeordneten aufzuheben:
„Die Regierung Erdoğan nimmt seit dem [Putschversuch am] 15. Juli, der für sie ein 'Geschenk Gottes' ist, Schritt für Schritt sämtliche Festungen der türkischen Demokratie und Justiz ein und führt das Land in die Diktatur. Es ist wahr: Das Urteil über Enis Berberoğlu ist die Amtlichmachung des Faschismus. Selbst ein Abgeordneter, der ja eigentlich Immunität genießt, kann plötzlich mit einer schweren Haftstrafe von 25 Jahren hinter Gittern landen. ... Die Sünde der CHP war, daran mitzuwirken, dass der Weg hierzu freigemacht wurde. ... Weil die CHP mit Erdoğan kooperierte oder seine Vorhaben stillschweigend hinnahm.“