Parlament in Ankara hebt Immunität auf
EU-Politiker haben die Aufhebung der Immunität von 130 Abgeordneten des türkischen Parlaments scharf kritisiert. Das Land zeige eine "atemberaubende Abwendung von den Werten Europas", sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Regierungstreue türkische Medien weisen solche Kritik zurück.
EU sollte die Türkei erstmal kennenlernen
Dass die Aufhebung der Immunität von Parlamentariern international auf Kritik gestoßen ist, ärgert die regierungstreue Daily Sabah:
„Es ist wahr, dass die meisten der betroffenen Abgeordneten von der HDP sind, denn viele von ihnen wurden auf frischer Tat ertappt, wie sie Straftaten unter dem Kommando der PKK begingen. ... Die türkische Öffentlichkeit ist erfreut über die Entscheidung des Parlaments, die Immunität aufzuheben, denn der Terrorismus verursacht Leid und Aufruhr im ganzen Land. Doch einige Mitglieder des EU-Parlaments und einige EU-Vertreter, die nicht in der Türkei leben und nicht vom PKK-Terror bedroht sind, haben eine skandalöse Reaktion auf die Entscheidung an den Tag gelegt. ... Sie sollten versuchen, die Türkei kennenzulernen, anstatt sie zu diffamieren. Ansonsten wird das türkische Volk glauben, dass Sie bewusst die Augen vor den Anliegen der Türkei verschließen. Und in so einem Fall wird die EU diejenige sein, die verliert.“
Ankara lyncht friedliche Kämpfer
Die Aufhebung der Immunität von Abgeordneten der pro-kurdischen HDP macht die Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts weiter zunichte, fürchtet die regierungskritische Tageszeitung Cumhuriyet:
„Was für Folgen wird es haben, wenn man 59 legal gewählte Abgeordnete lyncht, die selber einen friedlichen Weg wählten und versuchen, Probleme zu überwinden, indem sie die Spielregeln befolgen? Nicht bloß unter den Familien, Bekannten und im Umfeld der HDP-Abgeordneten, sondern auch in ihrer Wählerschaft gibt es viele Menschen, die sich für die PKK, also den bewaffneten Widerstand entschieden haben. Und zwar nicht bloß Hunderte oder Tausende, sondern Zehntausende. ... Was für einen Nutzen hat der Versuch, die 59 Parlamentarier in diese Zehntausenden zu integrieren, sie zu zwingen, die legitimen Wege zu verlassen? ... Die 59 HDP-ler aus dem Parlament zu werfen, ist das Letzte, was man in dieser Situation tun sollte.“
Türkei wird zur Diktatur und Europa schaut zu
Durch die Aufhebung der Immunität und der darauf folgenden Verfolgung pro-kurdischer Politiker würden Parlamentssitze für die Regierungspartei AKP frei und Verfassungsänderungen erleichtert, weiß Spiegel Online und hält damit die Idee eines Wandels durch Annäherung mit der Türkei für überholt:
„[Man muss zweifeln,] ob selbst eine völlig unromantische, realpolitische Interessenpolitik Deutschlands und der EU es noch rechtfertigen kann, mit dem Regime Recep Tayyip Erdoğans zu kooperieren. Denn ganz offensichtlich gibt es mit Erdoğan keinen Wandel durch Annäherung. Jedes Entgegenkommen der Europäer betrachtet er als Freibrief, seine Interessen immer noch rücksichtsloser durchzusetzen. Sollte das türkische Parlament sich heute selbst entmachten, dann spätestens ist die Grenze überschritten, jenseits derer sich Europa mitschuldig macht, wenn es weiter höflich zurückhaltend dabei zusieht, wie die Türkei zur Diktatur wird.“
Klarer Kurs Richtung Präsidialsystem
Präsident Erdoğan will die pro-kurdische HDP aus dem Parlament schmeißen und den Weg für ein Präsidialsystem frei machen, warnt die kemalistische Tageszeitung Sözcü:
„Die Regierung, die bei der Wahl am 7. Juni 2015 ihre Mehrheit verlor und - um erneut zu gewinnen - den Funken des Terrors entfachte, plant nun als letzten Schritt, die HDP aus dem Parlament zu werfen. Damit will sie die HDP in Bedrängnis bringen und die Unterstützung für das Präsidialsystem sichern. ... Würde über die Immunität ein Referendum abgehalten, würde zweifellos eine überwältigende Mehrheit dafür stimmen. Denn nicht jeder Bürger weiß, was Immunität ist und der Slogan 'Wir werfen die Terroristen raus' dürfte bei Regierung und Opposition gleichermaßen wirken. Doch das eigentliche Thema, über das der Palast ein Referendum abhalten will, ist das Präsidialsystem. Deswegen wird der Palast in dem Referendum über die Immunität auch über das Präsidialsystem abstimmen lassen wollen.“
Referendum würde Kurden mobilisieren
Ein Referendum über die Aufhebung der Immunität insbesondere von Parlamentariern der HDP kann den Konflikt mit den Kurden weiter anfeuern, warnt Milliyet:
„Die ganze Situation droht aus dem Ruder zu laufen, was insbesondere für die Regierungspartei aber auch für die ganze Türkei sehr gefährlich wäre. Die ohnehin angespannten Nerven würden noch stärker belastet. So könnte die Situation zu einer 'Kurdenfrage' werden. Wenn die Stimmung sowieso schon aufgeheizt ist, können demokratische Instrumente, wie die in der Verfassung vorgesehene Volksabstimmung, separatistischer Rhetorik und Politik nützen. Auch von außen könnten Provokationen kommen. Die Gefahr ist groß, dass diese Volksabstimmung wie eine Machenschaft gegen die Kurden präsentiert wird.“
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