Macron räumt im Kabinett auf
Innerhalb von 24 Stunden haben vier französische Minister das Kabinett verlassen. Drei von ihnen sollen Mitarbeiter aus dem EU-Parlament für Partei-Aufgaben eingesetzt zu haben, dem Macron-Vertrauten Ferrand von der LREM wird Vetternwirtschaft vorgeworfen. Am Mittwoch verkündete Macron ihre Nachfolger. Vorverurteilungen und der moralische Zeigefinger sind unangebracht, kritisiert Frankreichs Presse.
Wo bleibt die Unschuldsvermutung?
Verdächtigungen dürfen nicht zu vorschnellen Verurteilungen führen, gibt Ouest France zu Bedenken:
„Darf man zulassen, dass der Verdacht ausreicht, um einen Minister zum Rücktritt zu zwingen? ... Die Bejahung dieser Frage würde bedeuten, dass ein Presseartikel größere Bedeutung hat als die Unschuldsvermutung. Und dass die Umstände des Rückzugs von François Bayrou, Sylvie Goulard, Richard Ferrand und Marielle de Sarnez die neue Rechtsprechung sind. Demzufolge müsste jeder gehen, gegen den nur der Verdacht erhoben wird, gegen den nicht einmal ermittelt wird, geschweige denn ein Urteil gesprochen wurde. Sowohl im Parlament als auch an anderen Orten, insbesondere beim Front National, gibt es einige, die in diesem Fall in den Spiegel schauen sollten.“
Medien schaden der Demokratie
Die von französischen Medien getriebene Debatte über die Tugendhaftigkeit der Politiker hat ein verheerendes Ausmaß angenommen, kritisiert der Historiker Maxime Tandonnet in Le Figaro:
„An einem Tag berauschen sich Frankreichs Medien an Optimismus, Jugend, Euphorie, Begeisterung, Jubel und Personenkult. Und am Tag darauf schwenken sie um auf Verdacht, Beschuldigung, Lynchjustiz, Prügel und die Suche nach Sündenböcken. ... Indem diese Besessenheit der Medien [nach Tugenhaftigkeit] das eigentliche Politische ausblendet, liefert sie das Land dem Laissez-faire, der Unentschlossenheit und dem Chaos aus. In Frage gestellt werden die Autorität der Politik, der Wahlen und damit die Demokratie. Das vergrößert die Abneigung gegenüber der Politik, was wiederum in der enormen Wahlmüdigkeit zum Ausdruck kommt.“
Eine Chance für den Präsidenten
Der Rücktritt von vier Ministern hat für Präsident Macron Folgen, glaubt die Neue Zürcher Zeitung:
„Sein glanzvoller Start hat plötzlich einen Makel. Er wurde mit dem Versprechen gewählt, die französische Politik grundlegend zu erneuern. Jetzt stellt sich heraus, dass die alten Sitten und Gebräuche nicht ausgeräumt wurden. Sie sitzen mit den altgedienten Politikern, die sich Macron angeschlossen haben, weiter am Kabinettstisch und im Parlament. Doch ist die erste Regierungskrise auch eine Chance für Macron, dann nämlich, wenn er daraus eine wichtige Lehre zieht: Die Anwärter auf hohe Ämter müssen besser geprüft werden. Die 'Moralisierung' hat sich in den Fällen der vier Minister und vor allem auch im Fall Fillon von selbst durchgesetzt, noch bevor dazu ein Gesetz verabschiedet wurde. Das ist gut so, denn Moral ist nicht etwas, was von Staats wegen verordnet werden kann.“
Drakonische Maßnahmen sind richtig
Beim Thema Korruption ist es gefährlicher, zu wenig zu tun als zu viel, ist La Vanguardia überzeugt:
„Nun warnen manche, dass der harte Umgang mit Politikern, die keine Straftat begangen haben, zu Ungerechtigkeiten führen könnte. Das Risiko besteht tatsächlich. Aber die Korruption hat bereits eine Reihe von Demokratien befallen, schwächt sie oder bedroht gar ihr Weiterbestehen. Deshalb ist Nachlässigkeit noch riskanter als eine übertriebene Reaktion. Natürlich gehören die Freiheit und der Schutz des Individuums zum rechtlichen Fundament demokratischer Gesellschaften. Aber sobald das ganze Gebäude vom Einsturz bedroht ist, muss man Entscheidungen treffen, um Risiken zu minimieren. Vor allem, wenn es sich um Korruption handelt, denn die nagt wie Termiten an den Grundfesten.“
So gewinnt man kein Vertrauen zurück
Sowohl der Macron-Vertraute Richard Ferrand als auch die vorherige Europaministerin Marielle de Sarnez könnten nun den Fraktionsvorsitz ihrer Parteien bekommen. Le Monde ist darüber schockiert:
„Was bei einem Minister nicht tolerierbar ist, das soll für einen Fraktionschef hinnehmbar sein? Diese Art und Weise, die Nationalversammlung zu einem Recycleunternehmen für Minister zu machen, die mit der öffentlichen Tugend in Konflikt stehen, ist schlicht und einfach schockierend. Bei der Wiederherstellung des Vertrauens kann man sich nicht auf den Bereich der Ministerposten beschränken.“
Bulgarien sollte sich ein Beispiel nehmen
Die vier zurückgetretenen Minister hätten in Bulgarien nichts zu fürchten gehabt, schreibt der in Paris lebende Schriftsteller und ehemalige Politiker Dimo Rajkow auf e-vestnik über sein Heimatland:
„In Bulgarien reagiert niemand auf die offizielle Bekanntmachung des EU-Parlaments, dass bulgarische EU-Abgeordneten keine Rechenschaftsberichte über die Verwendung von Parlamentsgeldern für Mitarbeiter abgegeben haben. Über die faulen Machenschaften unserer EU-Abgeordneten wird kein Wort verloren. Während Frankreich also von Skandalen erschüttert wird und auch in anderen EU-Ländern bereits gegen EU-Abgeordnete ermittelt wird, tut man in Bulgarien so, als wäre nichts gewesen.“
Taktisch kluge Regierungsumbildung
Dass nun eine Regierungsumbildung notwendig wurde, kommt Macron nicht ungelegen, glaubt Il Sole 24 Ore:
„Es erlaubt Macron einerseits, einen seiner treuesten Gefolgsleute in eine Schlüsselposition zu heben [Ferrand soll Fraktionschef seiner Partei werden] und andererseits, potenzielle Gefahren für seine Regierung zu vermeiden, weil die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Ferrand eingeleitet hat. … Auch die Entscheidung von Goulard, die Macron selbst 'herbeigeführt' haben dürfte, steht im Zusammenhang mit einer Ermittlung. … Macrons Botschaft ist somit klar: Die Regierung muss unantastbar sein. Wenn dank der Rücktritte dann noch Plätze frei werden für Spitzenpolitiker der Konservativen, umso besser. Erst recht mit einer gespaltenen Rechten, die im Parlament zwei Flügel bilden wird: einen Oppositionsflügel und einen, der die Mehrheit des Präsidenten unterstützt.“
Nur konsequent
Die Süddeutsche Zeitung erinnert daran, dass Macron die Wahl vor allem dank seines Versprechens gewonnen hat, die durch Raffgier und Korruption in Verruf geratene Politik zu reinigen:
„Daher ist es überfällig, dass der unter Korruptionsverdacht stehende Minister Richard Ferrand nun das Kabinett verlassen muss. Beeindruckend aber ist vor allem, dass Verteidigungsministerin Sylvie Goulard von der mit Macron verbündeten Modem-Partei freiwillig ihr Amt aufgibt. Obwohl gegen Goulard bislang keine Ermittlungen wegen illegaler Parteienfinanzierung laufen, sondern nur gegen ihre Partei, tritt sie ab, um Ministerium und Armee nicht zu belasten. Chapeau!“