Bringt der türkische Putschprozess Aufklärung?
In der Türkei läuft seit einer Woche der Prozess gegen 486 mutmaßliche Putschisten. Sie sollen den Umsturzversuch im Sommer 2016 auf Befehl des Predigers Fethullah Gülen orchestriert haben. Die Anklage fordert in vielen Fällen lebenslänglich - und Schaulustige vor dem Gerichtsgebäude verlangen in Sprechchören die Todesstrafe. Die Erwartungen der Presse an den Prozess sind sehr unterschiedlich.
AKP erschafft Gründungsmythos einer neuen Türkei
Der Prozess wird kaum dazu beitragen, die Hintergründe des Putschversuchs aufzuklären, fürchtet die taz:
„Ein Massenprozess, in dem die Angeklagten längst vorverurteilt sind und nun gegenüber einer parteiischen Justiz ihre Unschuld beweisen sollen. … Schon der im vergangenen Jahr gebildete parlamentarische Untersuchungsausschuss, der die Putschnacht aufklären sollte, scheiterte daran, dass die AKP-Mehrheit die Vorladung der wichtigsten Zeugen verhinderte. Der daraufhin von Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu erhobene Vorwurf, das Ganze sei ein gelenkter Putsch gewesen, wird durch diesen Prozess nicht widerlegt. Der Massenprozess dient vielmehr der Geschichtsschreibung der Regierung, die in der angeblich heroischen Abwehr des Putsches den Gründungsmythos ihrer neuen Türkei sieht.“
Putschisten führen vor Gericht eine Show auf
Die regierungsnahe Yeni Şafak wirft den Angeklagten dreiste Lüge vor:
„Während die Staatsanwälte in den Prozessen, die eingeleitet wurden, um das hinterlistigste und umfassendste Verräter-Netzwerk in der türkischen Geschichte mit allen Dimensionen zu überführen, die Anklagen verlesen, führen die Putschisten mit aller Kunstfertigkeit ihre eigene Show auf. ... Sie behaupten, nichts mit [der Gülen-Bewegung] Fetö zu tun zu haben, Fetö gar nicht zu kennen, in jener Nacht nur anwesend gewesen zu sein, um an den Aktionen gegen den Putsch teilzunehmen, den Putschisten rein zufällig begegnet zu sein. ... Auch für Fetö-Anhänger ist Lügen höchstwahrscheinlich kein ethisches Verhalten, doch dass sie das so kaltblütig tun, liegt wohl daran, dass sie es mit religiösen Motiven legitimieren können.“