Welche Rolle für den EuGH in Großbritannien?
Premierministerin May hatte den Brexit-Hardlinern versprochen, dass London nach dem britischen EU-Austritt die volle Souveränität über seine Rechtsprechung zurückerhalten werde. In einem Papier ihrer Regierung heißt es nun, dass allein die "direkte Gerichtsbarkeit des EuGH" ende, die Beschlüsse weiterhin als Richtschnur gälten. Ob das eine sinnvolle Kehrtwende ist, beurteilen Kommentatoren ganz unterschiedlich.
Rotes Tuch für Brexit-Hardliner
Dass Großbritannien nach dem Brexit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unterworfen bleibt, ist schlicht unvorstellbar, meint The Irish Independent:
„Wenn man sich vor Augen führt, wie weit die Rechtsprechung des EuGH ins tägliche Leben der Briten hineinreicht, ist es leicht nachvollziehbar, warum diese Angelegenheit in der Brexit-Debatte für viele ein rotes Tuch war und ist. Die britische Regierung hat in all ihren Erklärungen nach dem Brexit-Referendum betont, wie wichtig es sei, 'die Kontrolle über unsere eigenen Gesetze zurückzuerlangen'. Daraus ergab sich zwangsläufig die umstrittene und in der Praxis nicht immer leicht umsetzbare Forderung, dass der EuGH bei Rechtsstreitigkeiten in Wirtschafts- und Handelsfragen, die Großbritannien betreffen, nicht länger entscheidungsbefugt sein darf.“
EuGH ist ein wichtiges Korrektiv
Der EuGH stellt einen wichtigen Gegenpol zur Regierung in London dar, meint The Independent:
„Weil die Regierung de facto von der größten Partei im Unterhaus gebildet wird, gibt es in der Realität keine wirkliche Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive. ... Sollte die Rechtsprechung des EuGH in Großbritannien nicht mehr gelten, dann würde die Regierung in London tatsächlich wieder 'vollständig die Kontrolle übernehmen', wie sich das Brexit-Befürworter gewünscht hatten. Die einzige mögliche Einschränkung wären rebellische Abgeordnete und die alle fünf Jahre stattfindende Unterhauswahl. ... Großbritannien wird sich fragen müssen, ob es verfassungsrechtlicher Änderungen bedarf, um sicherzustellen, dass es eine gut ausbalancierte Gewaltenteilung gibt und die Entscheidungen der Regierung in angemessener Form anfechtbar bleiben.“