Was, wenn Europa Merkel verliert?
Nach dem Ende der Jamaika-Sondierungen sehen Beobachter Angela Merkel so angeschlagen wie noch nie. Viele fürchten, dass mit ihr ein bedeutender Faktor der Integration und Stabilität für Europa verloren gehen könnte. Doch manche Kommentatoren hoffen auch auf einen politischen Neuanfang in Berlin - für Deutschland und für die EU.
Ohne Kanzlerin kein einiges Europa
Merkel ist mit ihrem proeuropäischen Engagement unerlässlich für das Fortbestehen eines gemeinsamen Europas, meint Népszava:
„Merkel ist es zu verdanken, dass die EU die Finanz- und Wirtschaftskrise überwunden hat. Sie war es, die die Eurozone im Gefolge der finanziellen Misere der Mittelmeerländer zusammenhalten konnte. Ganz zu schweigen von der mutigen Lösung der Flüchtlingskrise vor zwei Jahren. Die deutsche Kanzlerin ist die einzige, die für die Visionen Emmanuel Macrons offen ist und obendrein imstande ist, sich mit den renitenten EU-Ländern Osteuropas zu verständigen. Ohne Merkel können wir uns ein gemeinsames Europa gar nicht vorstellen.“
Der Krisen-Schutzwall bröckelt
Selbst im linken Onlineportal eldiario.es bangt Kolumnist Carlos Elordi um die Stabilität einer Europäischen Union, die auf Kanzlerin Merkel verzichten muss:
„Während wir von der Katalonien-Krise gefesselt sind, ist in Europa etwas geschehen, das die Zukunft der EU entscheidend verändern könnte: Angela Merkel konnte keine Regierung bilden und Deutschland steht vor einem Szenario der politischen Instabilität, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt. Und europäische Politiker jeglicher Couleur fürchten, dass dies die EU vor sehr schwere oder gar unüberwindbare Probleme stellen kann. Denn ob man Merkels Politik nun mag oder nicht, war sie doch bislang der Inbegriff der politischen Stabilität für den gesamten Kontinent. Eine Mauer, an der alle Krisen abprallten. Und an diesem Montag ist die Kanzlerin erstmals gescheitert. Und vermutlich beginnt nun ihr Niedergang.“
Merkel ist zum Problem geworden
Die Kanzlerin selbst ist zum Hindernis für eine Regierungsbildung in Deutschland geworden, konstatiert die Berlin-Korrespondentin Tonia Mastrobuoni von La Repubblica:
„Dass Merkel am Montagabend sagen konnte, sie werde im Fall einer Neuwahl wieder für die CDU kandidieren, ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass es keine Alternative gibt. Denn Merkel hat keine Alternative aufkommen lassen. Zudem ist die CDU-Chefin letztlich auch zu einem Hindernis für andere mögliche Lösungen geworden. Es ist kein Geheimnis, dass die persönliche Abneigung zwischen ihr und [FDP-Chef] Lindner eine Rolle [beim Scheitern der Jamaika-Sondierungen] gespielt hat. Oder dass ein Teil der SPD weitaus weniger abgeneigt wäre, sich mit der CDU/CSU zu verbünden, wenn es Merkel nicht gäbe. Die Parteien, die bereits eine Koalition mit der Kanzlerin eingegangen sind, fürchten nach wie vor, von ihr ins Abseits gedrängt zu werden.“
EU braucht eine neue deutsche Regierung
Für Europa wäre ein Wechsel im Berliner Kanzleramt gar nicht schlecht, findet hingegen Le Temps:
„Angela Merkel stand auch für einen gewissen Stillstand in Europa: Sie hat - zum Teil exzessiv - auf Haushaltsdisziplin beharrt, sich gegen neue politische Projekte gesträubt und war stets darauf bedacht, niemanden zu verärgern oder zu brüskieren. Trotz der Arbeit, die sie an verschiedenen Fronten geleistet hat - und die am Tag ihres endgültigen Abtritts zu würdigen sein wird - hat die Kanzlerin es nicht geschafft, Europa neuen Schwung zu verleihen. Auch in dieser Hinsicht kann die erwartete Erneuerung an der Spitze Deutschlands neue Perspektiven eröffnen. Ihr Land, das zur führenden Nation des Alten Kontinents aufgestiegen ist, scheint reif für eine entschlossenere und mehr Inspiration liefernde Regierung, die weniger amtsmüde ist.“