Wie muss Europa Antisemitismus bekämpfen?
Im März wird die 85-jährige Holocaust-Überlebende Mireille Knoll in ihrer Pariser Wohnung erstochen. Im April wird ein Israeli, der eine Kippa trägt, in Berlin auf offener Straße geschlagen. Diese jüngsten antisemitischen Vorfälle haben europaweit für Schlagzeilen gesorgt - und eine Debatte darüber ausgelöst, ob Juden sich in Europa noch sicher fühlen können und was getan werden muss, um sie zu schützen.
Juden werden im Stich gelassen
Jude in Europa zu sein, ist heute wieder ein Grund, Angst zu haben, klagt der Journalist und Schriftsteller Pierluigi Battista in Corriere della Sera:
„Leider ist Antisemitismus nicht nur das Vorrecht einer Gruppe leerer und rasierter Neonazi-Köpfe. Eine Kippa zu tragen, löst auch den Hass derjenigen aus, die die Juden vernichten und Israel zerstören wollen. Ungläubige, die es wagen, das 'Heilige Land' zu beschmutzen und zu schänden. In einem Europa der passiven Duldsamkeit einer verängstigten und resignierten Mehrheit verbreitet sich der Antisemitismus ohne auch nur eine Regung des Aufbegehrens zu erzeugen, trotz der – leeren - Worte der offiziellen Gedenkzeremonien zum Holocaust. Also müssen die Juden, die allein gelassen worden sind, wieder selbst handeln: Sie müssen sich verstecken, die Symbole ihrer Identität verbergen. Eine traurige Entwicklung. Die Juden werden von einer legitimen Angst und dem Gefühl der Isolation erfasst, derer sich ganz Europa schämen müsste.“
Gegen alle Formen von Hass vorgehen
Die französische Zeitung Le Parisien hat ein von 300 Persönlichkeiten unterzeichnetes Manifest gegen den "neuen Antisemitismus" mit islamistischem Hintergrund veröffentlicht. Dies kann jedoch nur ein Teil des Kampfes gegen Feindseligkeit sein, betont Historikerin Marie-Anne Matard-Bonucci in Le Monde:
„Man kann nicht umhin, die Sorgen der Autoren des Textes zu teilen. Er ruft uns mitunter in Erinnerung, dass sich der Kampf gegen den Antisemitismus ebenso wie der gegen andere Formen von Feindseligkeiten gegenüber gesellschaftlichen Gruppen nicht auf einfache Rezepte beschränken darf. Er kann nicht separat vom Kampf gegen andere in unserem Land vorkommende Formen von Feindseligkeiten geführt werden, wie dem Rassismus gegenüber Arabern oder Schwarzen, den Vorurteilen gegenüber Muslimen, die wegen ihrer religiösen Praktiken stigmatisiert werden, sowie dem Rassismus gegenüber Asiaten und Roma.“
Religiöse Texte besser einordnen
Im genannten Manifest werden die höchsten Vertreter des Islam dazu angehalten, die zur Gewalt gegen Andersgläubige aufrufenden Koranverse als veraltet zu erklären. Das bringt nichts, meint Dorian de Meeûs, Chefredakteur von La Libre Belgique:
„Dass einige Koranverse, die zum Kampf gegen Juden, Christen und Ungläubige auffordern, wörtlich genommen und unzeitgemäß verstanden werden können, ist bedauerlich. Wir sollten aber auch einräumen, dass gemäßigtere Interpretationen dieser Texte aus dem 7. Jahrhundert vorliegen. ... Die Gründungstexte des Islam ändern zu wollen, scheint angesichts der Beziehung der Muslime zu den heiligen Texten ein frommer Wunsch zu sein. Auch würde dies den Antisemitismus keineswegs ausrotten. Was wir brauchen, ist eine veränderte Wahrnehmung und neue Kontextualisierung der religiösen Schriften, die manchmal zu wörtlich genommen werden.“