Regierungsbildung in Berlin: Koalitionsvertrag vorgelegt

Auf dem Weg zu einer neuen Regierung ist Deutschland einen entscheidenden Schritt weiter. Die Unterhändler von CDU, CSU und SPD haben sich auf gemeinsame Ziele geeinigt und den Entwurf eines Koalitionsvertrags vorgelegt. Nun müssen die jeweiligen Parteigremien darüber abstimmen. Als möglicher Zeitpunkt für die Wahl des neuen Kanzlers durch den Bundestag ist Anfang Mai im Gespräch. Europas Presse kommentiert.

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Le Temps (CH) /

Endlich wieder attraktive Perspektiven

Merz schenkt Deutschland neue Hoffnung, betont Le Temps:

„Er hat es geschafft, SPD und Grüne von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Schuldenbremse aufzuweichen, das Totem der deutschen Sparpolitik, die lange Investitionen gelähmt hat. So versetzt er das Land in die Lage, sich zu modernisieren und in eine wohlhabendere Zukunft zu blicken. Von Gerhard Schröder über Angela Merkel bis zu Olaf Scholz haben die letzten Kanzler es unterlassen, in die mittlerweile veraltete Infrastruktur zu investieren, und sich dank Ausrichtung auf Exporte und billiges russisches Gas auf einer Grundrente ausgeruht. Die deutsche Industrie brennt darauf, endlich von würdigen Rahmenbedingungen zu profitieren, die diesen Namen wirklich verdienen.“

Lidové noviny (CZ) /

Mitte-Regierung stärkt die AfD noch mehr

Lidové noviny findet eine weitere Große Koalition verhängnisvoll:

„Seit Angela Merkel 2005 ihr Amt antrat, verschwindet der Wettbewerb zwischen links und rechts aus der Gesellschaft. ... Und so ist es nicht verwunderlich, dass eine Umfrage am Tag der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags ergab, dass die AfD jetzt die beliebteste Partei in Deutschland ist. ... Wenn die AfD zur Wahl antritt, aber keine Koalition mit ihr geführt werden darf, werden 20 Prozent der Stimmen die Toilette hinuntergespült. ... Wenn der siegreiche Merz bei der Bildung einer Koalition die linken Rezepte seiner SPD-Partner akzeptieren muss, kann das nur dazu führen, dass die Wähler noch verärgerter werden und die AfD noch stärker unterstützen.“

The Irish Times (IE) /

Unheilvolle Zugeständnisse in der Migrationspolitik

Einen typischen Kompromiss beobachtet The Irish Times:

„Für jede Partei ist etwas dabei, ideologische Unterschiede werden überdeckt. Es wird versprochen, die Energiepreise zu senken, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, den Mindestlohn anzuheben, das aus Sicht der CDU zu großzügige Sozialsystem zu reformieren, Anreize für den Verkauf von Elektroautos zu schaffen und Steuersenkungen für Unternehmen einzuführen. ... Die europäischen Verbündeten werden aber über die Haltung zur Migration besorgt sein, ein unheilvolles Zugeständnis beider Parteien angesichts der Wahlgefahr durch die nationalistische extreme Rechte. ... Angela Merkels Politik der offenen Grenzen ist endgültig begraben.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Europa tickt gerade konservativ

Die Süddeutsche Zeitung sieht damit

„in Europa endgültig eine Ära der Christdemokraten und Konservativen anbrechen. Sie stellen bereits jetzt die Mehrheit der Staats- und Regierungschefs, die Mehrheit im Europaparlament und in der Person Ursula von der Leyens die Kommissionspräsidentin. Europäische Politik wird sich noch mehr als bisher darauf konzentrieren, die Wirtschaft in Schwung zu bringen und allgemein das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, im Inneren wie im Äußeren. Das wird sich niederschlagen in einer noch restriktiveren Migrationspolitik. ... Dasselbe gilt für den Klimaschutz, der sich künftig dem Primat der Wirtschaft unterordnen soll. Beides mag man mit guten Gründen für rückschrittlich halten. Aber es ist offensichtlich der Mehrheitswille in Europa.“

Aargauer Zeitung (CH) /

Diszipliniert angesichts der Krise

Die Koalitionäre haben sich unter Druck zügig geeinigt, lobt die Aargauer Zeitung:

„Dass die Gespräche alles in allem schnell und reibungslos abliefen, dürfte nicht zuletzt dem allgegenwärtigen Krisengefühl zu verdanken sein. … So paradox es klingen mag: Die Krise hat Merz geholfen. Seine heimlichen Verbündeten waren US-Präsident Donald Trump, dessen Einfuhrzölle die Exportnation Deutschland besonders schwer treffen könnten, und die AfD, die in einer Umfrage bereits vor der Union auf Platz eins liegt. All das scheint auf die Unterhändler eine disziplinierende Wirkung ausgeübt zu haben … Auch die Sozialdemokraten haben offenbar realisiert, dass sich manches ändern muss, wenn das Land nicht in die Unregierbarkeit abrutschen soll.“

La Repubblica (IT) /

Gibt es einen außenpolitischen Kurs?

Dass über ein in diesen Zeiten sehr bedeutendes Ressort zu wenig vereinbart wurde, moniert La Repubblica:

„Zusammen mit der SPD-Führung unterzeichnete der künftige Kanzler einen 144-seitigen Koalitionsvertrag, der den Kurs für die vier Jahre stürmischer Fahrt geben soll – stürmisch insbesondere in den Gewässern der Außenpolitik. Doch gerade dieses Thema ist immer noch der große Abwesende in den Gesprächen zwischen den beiden Parteien der ehemaligen 'großen' Koalition.“

El País (ES) /

Deutschland kann Führungsrolle wieder ausfüllen

El País sieht den künftigen Regierungschef in einer stabilen Ausgangslage:

„Merz' Vorteil ist, dass die große, die Amtszeit bestimmende Entscheidung schon vor drei Wochen gefallen ist, als der scheidende Bundestag das Grundgesetz reformierte, um Deutschland eine Verschuldung zu ermöglichen. ... Die Reform verschafft ihm einen ungewöhnlichen Handlungsspielraum, der es ihm erlaubt, die Wirtschaft wieder zu beleben und das Land aufzurüsten. ... Der Koalitionsvertrag ist bescheiden, aber das sollte kein Hindernis sein: Europas größte Volkswirtschaft und bevölkerungsreichstes Land kann seine Rolle in der EU voll ausfüllen. In der Welt von Donald Trump, Wladimir Putin und Xi Jinping ist dies notwendiger denn je.“

Zeit Online (DE) /

Abgefederter Neoliberalismus

Für Zeit Online gehen die Reformvorhaben in die richtige Richtung:

„Die Koalition hat sich, so kann man das wohl formulieren, für einen sanften neoliberalen Reformkurs entschieden, der durch umfangreiche staatliche Ausgabenprogramme abgefedert wird. Das ist der Kompromiss, auf den sich die beiden Parteien verständigen konnten. Es ist angesichts der Lage im Inneren und im Äußeren nicht der schlechteste Kompromiss. ... Damit gilt: Wenn US-Präsident Donald Trump nicht komplett durchdreht, könnte das Land die wirtschaftliche Stagnationsphase hinter sich lassen. Ob das ausreicht, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können und den Aufstieg radikaler Kräfte zu verhindern, lässt sich heute nicht vorhersagen.“

The Spectator (GB) /

Merz verprellt konservative Wähler

The Spectator sieht zu viele Zugeständnisse an die SPD:

„Wenn konservative Mainstream-Politiker ihre Prinzipien verraten, bekehren sie ihre Wähler nicht zum Progressivismus, sie lassen sie politisch verwaist zurück und machen sie anfällig für radikale Alternativen. ... Merz war als Heilsbringer angetreten, der die konservative Glaubwürdigkeit seiner Partei nach Jahren des Abdriftens unter Merkel wiederherstellen sollte. Stattdessen entpuppt er sich als ein weiterer rückgratloser Politiker, der bereit ist, seine Prinzipien zugunsten der Macht zu opfern. Für deutsche desillusionierte bürgerliche Wähler die Unterzeichnungszeremonie nicht einfach nur ein weiterer Koalitionsvertrag – es ist die Beerdigung ihrer einstigen politischen Heimat.“