Moskau erhöht Rentenalter und Mehrwertsteuer
Just am Tag der Eröffnung der WM hat die russische Regierung angekündigt, schrittweise das Renteneintrittsalter erhöhen zu wollen: für Männer von 60 auf 65, für Frauen von 55 auf 63 Jahre. Die Mehrwertsteuer soll von 18 auf 20 Prozent steigen. Für einige Beobachter war die Reform überfällig. Andere glauben, dass Russland damit keinen Schritt weiterkommt.
Überfällig seit Sowjetzeiten
Für die Erhöhung des Rentenalters war es höchste Zeit, befindet Iswestija:
„Probleme mit dem Rentensystem gab es erstmals Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts, noch in der UdSSR. ... Doch damals hat man - vorrangig aus politischen Gründen - beschlossen, nichts zu unternehmen. Dank des hohen Ölpreises konnte man die Renten aus dem Staatshaushalt finanzieren - und fertig. Doch die Überalterung der Gesellschaft hatte schon damals begonnen. Die Probleme stauten sich auf und erst jetzt, erst im neuen Russland, hat die Regierung den Mut gefasst, einen ernsthaften Schritt zu unternehmen ... Dies macht man vor allem, um eine Stabilisierung des Rentensystems zu erreichen. ... Die Erhöhung des Rentenalters führt dazu, dass die Auszahlungen in höherem Maße von den aktuell Arbeitenden gewährleistet werden.“
Warum die Reform nichts bringt
Mehrere Haken an der anvisierten Rentenreform findet Wedomosti:
„Erstens besteht das Risiko, dass die neuen Pensionäre nicht die zum Erhalt der Arbeitsrente vom Gesetz geforderte Lebensarbeitszeit erreichen. Dem Rentenalter nähern sich derzeit Leute, deren Arbeitsleben in die Zeit der weit verbreiteten Schwarzarbeit und der in Briefumschlägen ausbezahlten Gehälter fiel. Sie können nur auf eine Sozialrente hoffen, doch die ist niedriger und beginnt später. ... Zweitens macht der spätere Renteneintritt weitere Arbeitsjahre notwendig. Dabei ist es für die Russen schon lange vor Erreichen des Rentenalters problematisch, eine Arbeit zu finden - nämlich ab 45 Jahren. ... Drittens besteht die Gefahr, dass die Menschen auf die Invalidenrente ausweichen. Die Anträge auf Anerkennung einer Behinderung steigen üblicherweise bei jeder Veränderung im Rentensystem.“
Schöne Spiele, dafür weniger Brot
Für Nowaja Gazeta scheint die Terminwahl nicht ganz zufällig zu sein:
„Wesentliche Bedeutung hat der WM-Beginn wohl für die Innenpolitik. Es sieht so aus, als würden unpopuläre Reformen, faktisch neue Abgaben der Bürger zugunsten des Staates, genau in dem Moment erfolgen, wenn die russische Öffentlichkeit mit Hingabe die Talente ihrer Nationalmannschaft diskutiert. Exakt zum Start des Fußballfests verkündete die Regierung Pläne zur Erhöhung des Rentenalters und der Mehrwertsteuer. Das ist richtig berechnet: Man nimmt dem Volk das Brot einfacher weg, solange es Spiele hat.“
Putin hat seine Wählerschaft ausgetrickst
Sozialpsychologe Alexej Roschtschin glaubt, dass Putin einfach nur die Präsidentenwahlen abgewartet hat:
„Wenn Putin vor den Wahlen ehrlich gesagt hätte 'Leider, liebe Mitbürger, wird das allererste, was ich gleich nach der Amtseinführung tun werde, die Erhöhung des Rentenalters in Russland sein', hätte er dann so viele Stimmen bei einer so hohen Wahlbeteiligung bekommen? ... Er hat, zynisch und geschickt, das vertrauensselige Elektorat ausgetrickst. Dabei ist die Erhöhung des Rentenalters extrem unpopulär: Nach einer Umfrage des Romir-Instituts sind 92 Prozent der Befragten dagegen. Eine phänomenale Zahl, sie ist sogar höher als die Zustimmung für Putin (83 Prozent).“