Missbrauch: Wie muss katholische Kirche reagieren?
Eine von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebene und am Dienstag veröffentlichte Studie vermittelt einen Eindruck vom Ausmaß sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche in Deutschland. Mindestens 1670 Geistliche sollen sich zwischen 1946 und 2014 an Kindern und Jugendlichen vergangen haben. Kommentatoren skizzieren, wie die Kirche nun aufklären und aufarbeiten muss.
Kirche muss Tabula rasa machen
Nun muss die Kirche alle Verbrechen lückenlos aufklären und in einem schmerzhaften Prozess Vieles infrage stellen, fordert Der Tagesspiegel:
„Kardinal Reinhard Marx ... als Vorsitzender der Bischofskonferenz muss Ernst machen. Indem endlich ernsthaft über eine jahrtausendealte Machtstruktur und Sexualmoral gesprochen wird; indem endlich Schweigekartelle durchbrochen werden; indem endlich alles durchleuchtet und infrage gestellt wird: die Gemeinde- und Seelsorgearbeit, das Beichtgeheimnis - das die Weitergabe von Hinweisen verhindert hat -, der Zölibat. Geredet werden muss über Intransparenz, Hierarchie, Erniedrigung. Und zwar im Angesicht der Opfer. ... Die Kirche muss dafür ihre Archive öffnen, in den Bistümern wie in den Orden, überhaupt in allen Institutionen kirchlicher Trägerschaft wie Internaten, Schulen oder Heimen.“
Zölibat hinterfragen
Entschiedenes Handeln fordert auch Kommunikationswissenschaftler Max Gottschlich in Die Presse:
„Die des sexuellen Missbrauchs schuldigen Kleriker müssen - entgegen der derzeitigen Praxis - sofort und ausnahmslos in den Laienstand versetzt und vor Gericht gestellt werden. Verdächtige Täter dürfen so lang keinen kirchlichen Dienst, in welcher Form auch immer, ausüben, so lang ihr Fall nicht geklärt wurde. Es stellt sich erneut und dringlich die Frage, ob Priestern der Zölibat nicht freigestellt werden sollte. Die Möglichkeit, die eigene Sexualität frei zu leben, ist auch keine Garantie gegen sexuellen Missbrauch, aber sie dürfte immerhin erheblich die Täterquote senken, wie die Studie der Deutschen Bischofskonferenz auch zeigt: Zwar machten sich 5,1 Prozent der Diözesanpriester des sexuellen Missbrauchs schuldig, aber 'nur' ein Prozent der Diakone.“
Missbrauch nicht herunterspielen!
Sexueller Missbrauch darf auf keinen Fall verharmlost werden, mahnt Stéphane Joulain, katholischer Priester und Psychotherapeut, in Le Monde:
„Einige Angehörige der Kirche wollen lieber nichts wissen und nichts hören. Sie glauben, dass sexueller Missbrauch 'doch gar nicht so schlimm ist'. Irrtum, er ist schlimm! Wenn ein Priester den Körper eines Kindes missbraucht, verletzt er es in dessen tiefstem Inneren. Er schließt es in Leid, Scham und Schweigen ein. Er stört sein Wachstum, seine Entwicklung und seine Beziehungen. Wenn ein Priester ein Kind missbraucht, verwehrt er ihm den Zugang zur Glaubensgemeinschaft, er hindert es daran, an das Leben, an sich selbst, an den Menschen, an die Liebe und an Gott zu glauben. Wenn ein Priester ein Kind missbraucht, missbraucht er das Heiligste auf dieser Welt: das Geschenk, das wir Leben nennen.“
Es geht um Macht, nicht um Sexualität
Franziskus hat davor gewarnt, Fehlverhalten ausschließlich nach heutigen Kriterien zu betrachten. Für Pravda ist dies die falsche Herangehensweise:
„Der Papst irrt, wenn er sagt, dass es ungerecht sei, alte Fälle sexuellen Missbrauchs nach heutigen moralischen Standards zu beurteilen. Darum geht es auch gar nicht. Sexuelle Gewalt ist eine Frage der Macht, nicht der Sexualität. Und im Falle der Kirche ist die Macht, die vom Priester missbraucht wird, institutionell. Es geht nicht nur darum, dass irgendein Pater XY 'es mit Kindern macht'. Es geht nicht nur um eine bestimmte Situation irgendwo im Pfarrgarten, sondern um die Macht der Kirche über die Menschen.“