Brexit-Showdown verschoben
Die EU-Staats- und Regierungschefs haben auf ihrem Gipfel in Brüssel keine Einigung im Brexit-Streit mit Großbritannien erzielt. Deshalb boten sie eine Verlängerung der Übergangszeit nach dem Austritt im März 2019 an. Nicht alle Beobachter sind davon überzeugt, dass dies weiterhelfen würde.
Bloß schnell raus
Von einer längeren Brexit-Übergangsfrist will The Sun nichts wissen:
„Wir würden uns in der absurden Position wiederfinden, im Juni 2016 für den EU-Austritt gestimmt zu haben, aber mindestens bis Dezember 2021 weiter an die Regeln der EU gebunden zu bleiben. Das würde einen Weiterbestand der Personenfreizügigkeit und zusätzliche neun Milliarden Pfund Steuergeld für die Töpfe der EU bedeuten, ohne irgendein Mitspracherecht zu haben. Das Problem der irischen Grenze wird unnötig hochgespielt. Die EU hat bereits eingestanden, dass sie eine solche nie errichten würde. Wir würden das ebenfalls nicht tun. ... Solange uns Theresa May nicht ein genaues Datum nennen kann, an dem wir die EU und alle ihre wichtigsten Institutionen verlassen, kann sie nicht behaupten, den Auftrag der Wähler erfüllt zu haben.“
Aufschub kein Allheilmittel
Ein längerer Brexit-Übergang ist für Unternehmen nicht automatisch besser, analysiert die Neue Zürcher Zeitung:
„[D]er Sinn einer Übergangsperiode ist, Firmen die Anpassung an ein neues Regime zu erleichtern. Die Unternehmen können nur verlässlich planen, wenn sie das neue Regime kennen und wissen, ab wann es gilt. Die Option auf eine Verlängerung der Übergangsperiode birgt das Risiko, dass die Gespräche bis dahin so unfruchtbar verlaufen wie vor dem Brexit. Parallel bestünde ständig Unsicherheit darüber, wann und wie die Phase tatsächlich endet. Beide Probleme werden noch grösser, wenn der Übergang von Beginn weg fristlos ist. Besonders kleine und mittlere Unternehmen können sich nicht für alle Eventualitäten rüsten.“
Dem No Deal ins Auge sehen
Nach den ergebnislosen Verhandlungen beim EU-Gipfel ist der No-Deal-Brexit näher gerückt, warnt De Tijd:
„In Großbritannien wird Theresa May jetzt als König dargestellt, der mutterseelenallein auf dem Schachbrett steht. Das Spiel ist verloren, aber noch nicht offiziell zu Ende. Und der König kann nur ein Feld pro Zug vorrücken, was die Hoffnungslosigkeit der ganzen Situation schmerzhaft symbolisiert. Der No-Deal-Brexit ist in dieser Woche wieder näher gerückt. Belgische Unternehmen, die noch keinen Plan hatten, wie sie den Schock eines sinkenden Kurswertes des Pfunds oder neue Regeln für den Export außerhalb der EU auffangen können, sollten sich besser gut vorbereiten.“
Briten wollen die Wahrheit nicht hören
Großbritannien fehlen die vernünftigen Stimmen, klagt Kolumnist und Professor für Europäisches Recht, Luuk van Middelaar, in NRC Handelsblad:
„Dass die Illusionen von mehr Macht und Reichtum außerhalb der EU auf fruchtbaren Boden fielen, muss man der gesamten britischen (besser gesagt englischen) führenden Klasse vorwerfen. Das Land leidet seit 1960 an post-imperialer Selbstüberschätzung, und es fehlt an Autoritäten, die als Sprecher der globalen Machtverhältnisse anno 2018 auftreten. Das Dilemma von Europa: Wenn wir es ihnen sagen, dann nähren wir Ressentiments. Wenn wir sie es selbst herausfinden lassen, mit einem dicken Crash, dann kriegen wir auch die Schuld.“
Verhandlungen brauchen mehr Zeit
Abwarten und Tee trinken ist das Einzige, was in Sachen Brexit derzeit getan werden kann, meint der London-Korrespondent von Corriere della Sera, Luigi Ippolito:
„Der Brexit steckt in einem Sumpf fest und das Risiko eines 'No Deal' wächst von Tag zu Tag. ... Es sei denn, man beschließt, alles einzufrieren. ... Eine Perspektive, die seit gestern immer wahrscheinlicher wird, denn Theresa May präsentierte sich in Brüssel im Wesentlichen mit leeren Händen. Sie machte keinen neuen Vorschlag, der die Verhandlungen zum Durchbruch hätte führen können. ... Daher rührt die Idee, die Übergangsphase nach dem Brexit bis Ende 2021 zu verlängern. Man würde also dafür sorgen, dass fast drei Jahre lang alles so bleibt, wie es ist, und darauf warten, dass eine zufriedenstellende Lösung gefunden wird. In London werden die Ungeduldigsten murren, aber es ist vielleicht der einzige Ausweg.“
Blinder Brexit würde nicht weiterhelfen
In einem von La Tribune de Genève und anderen Medien veröffentlichten Gastbeitrag warnen der frühere britische Premier Tony Blair und die Ex-Vizepremiers Nick Clegg und Michael Heseltine vor einem Brexit ohne Abkommen:
„Es hört sich nach einem sinnvollen Ziel an, die Briten ohne größere Umwälzungen aus der EU zu entlassen und über die Brexit-Schwelle in eine Übergangszeit zu führen. Aber es wäre keine Lösung für das Brexit-Problem. Ein solches Austrittsabkommen würde die Frage der irischen Grenze, der Rechte der Bürger und der Kosten des Austritts regeln. Aber eine vage politische Erklärung über die Zukunft würde wirtschaftliche Beziehungen und viele andere Fragen ungeklärt lassen. Das wäre ein gefährliches Signal an destruktive Populisten in der EU und diejenigen, die der EU nicht wohlgesinnt sind.“
Mays Anbiederung an EU-Gegner rächt sich
Da May es versäumt hat, Allianzen mit EU-freundlichen Kräften zu schmieden, wird sie es schwer haben, ein Brexit-Abkommen durch das Unterhaus zu bringen, fürchtet The Guardian:
„Sie hätte insbesondere versuchen können, die Schottische Nationalpartei SNP mit dem Versprechen auf ihre Seite zu bringen, EU-Kompetenzen dem schottischen Parlament zu übertragen. Außerdem hätte sie sich bemühen können, mit der Labour-Opposition Einigungen bei den Themen Zollunion, Nordirland und Arbeitsrecht zu finden. Stattdessen ließ sie es zu, Geisel des unfähigen und faulen rechten Flügels in ihrer eigenen Partei und eine Marionette der [nordirischen Unionistenpartei] DUP zu werden.“
Nordirland-Frage bedroht den Deal
Warum Theresa May es schwer haben wird, ihre Vorstellung vom Brexit unter den eigenen Ministern durchzusetzen, erklärt Večernji list:
„Die Gegner des Chequers-Plans stört, dass sie keinen klaren Ausweg aus der Zollunion sehen, in der Großbritannien während einer Übergangszeit bis 2020 verbleiben wird, aus der sie aber heraus wollen. Sie fürchten, dass es nie dazu kommen wird, sollte der Austritt aus der Zollunion 2021 nicht schon jetzt klar definiert werden. Auch stören sie sich daran, dass der Verbleib Nordirlands im gemeinsamen Markt bedeutet, dass in diesem Teil des Vereinten Königreiches andere Regeln gelten. Premierministerin May hält daran fest, dass die Integrität ihres Landes gewahrt werden muss und ist dafür bereit, zur Not auch ohne Abkommen aus der EU auszutreten.“
Nur dem Namen nach ein Brexit
Das einzige Szenario, mit dem Theresa May davon kommen könnte, heißt "Brino", meint der ehemalige London-Korrespondent Enrico Franceschini in Le Soir:
„Ein Abkommen, das so vage bleibt wie möglich und in dem jeder finden könnte, was er sucht. Vielmehr als ein Brexit wäre es dann ein Brino, ein 'Brexit in name only', wie es kürzlich ein Kolumnist in London bezeichnete. Also nur dem Namen nach ein Brexit. Auf diese Weise könnte man bis Dezember 2020, also während der zwei vorgesehenen Übergangsjahre und vielleicht auch noch lange danach, weiter diskutieren, was der Austritt aus der EU tatsächlich beinhaltet.“
Kompromiss bleibt möglich
The Independent dagegen hat die Hoffnung auf eine echte Einigung nicht aufgegeben und appelliert an alle Beteiligten, aufeinander zuzugehen:
„Eines der Opfer dieser Brexit-Frage ist die ruhige und sachliche Debatte. In der Politik geht es um Kompromisse. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass die Regierung in London eine Einigung anstreben sollte, die für den Großteil der 48 Prozent der britischen Bevölkerung, die gegen den Brexit stimmten, sowie auch für den Großteil der 52 Prozent, die für den Austritt votierten, insgesamt akzeptabel ist. Der gesunde Menschenverstand legt außerdem nahe, dass ein solcher Kompromiss im langfristigen Eigeninteresse der EU ist. Die vergangenen Tage brachten vermehrt Anzeichen dafür, dass eine solche Einigung - die natürlich nicht perfekt sein kann - in Reichweite ist.“