Frankreich: Neuer Massenprotest gegen Rentenreform
Hunderttausende Menschen sind am Donnerstag erneut in ganz Frankreich gegen die geplante Rentenreform auf die Straße gegangen - der vierte Massenprotest in fünf Wochen Dauerstreik. Nah- und Fernverkehr wurden massiv beeinträchtigt; auch Anwälte, Lehrer und Mitarbeiter der Post legten ihre Arbeit nieder. Europas Presse fragt sich, ob Macron dem Druck der Straße noch länger standhalten kann.
Wir sind nicht mehr im Absolutismus
Absolut richtig und dringlich findet The Economist die Rentenpläne:
„Emmanuel Macrons Reformen sind fair: Es gibt keinen Grund, warum junge Steuerzahler die viel besser gestellten Älteren subventionieren sollten. Die Reformen sind notwendig: Die derzeitige Möglichkeit, viel zu früh in Rente zu gehen, macht Frankreich ärmer als das Land eigentlich ist und gefährdet die Staatsfinanzen. Die Reformen sind überdies demokratisch legitimiert: Macrons Pläne wurden in seinem Wahlprogramm klar dargelegt, bevor er 2017 bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen beeindruckende Siege errang. Die Idee, dass Bürger auf der Straße die Politik bestimmen sollten, hatte in den absolutistischen Tagen von Ludwig XVI. eine gewisse Rechtfertigung. Doch die Revolution fand vor 231 Jahren statt.“
Gegen die Demografie kann man sich nicht wehren
Warum er die Proteste gegen die Reform für unsinnig hält, erklärt Kolumnist Alberto Mingardi in La Stampa:
„Renten sind eine Art finanzieller Kettenbrief, der so lange funktioniert, wie die Bevölkerung wächst. ... Ergibt es also Sinn, gegen die Demografie zu protestieren? Der Streik in Frankreich, der darauf abzielt, die Reform abzuschmettern, will letztlich nur einen Aufschub der Rechnung. Die heiße Kartoffel soll dann von der nächsten Generation aus dem Feuer geholt werden. ... Um das Beschäftigungsniveau zu halten und die Arbeitsbedingungen zu verbessern, brauchen wir den Dialog, nicht die Konfrontation. Nicht einmal sechzig Streiktage werden ausreichen, um ein Wohlfahrtssystem nachhaltig zu gestalten, das aufgrund der demografischen Schrumpfung nicht tragfähig ist.“
Teufelskreis der Rebellion
Die Geduld der französischen Gesellschaft hat ihre Grenzen, warnt Népszava:
„Der Präsident folgt der Strategie des Abwartens, und die Zeit ist allem Anschein nach auf seiner Seite. Die Franzosen haben langsam genug von den rekordverdächtig langen Streiks. ... Während die Gelbwesten das Leben in der Stadt 'nur' an den Wochenenden unmöglich gemacht haben, sind die Auswirkungen des jetzigen Streiks tagtäglich spürbar. ... Das ist der Teufelskreis der klassischen Methoden der Arbeiterbewegung: Genau diejenigen, für deren Interesse gekämpft wird, erheben sich gegen die unmöglichen Zustände. Macron ist in der Gewinner-Position.“
Opposition hat keine konstruktive Alternative
Beim Thema Rentenreform sind die Oppositionsparteien bei den französischen Bürgern derzeit noch unbeliebter als Macron, der Gewerkschaftsbund CGT und die streikenden Eisenbahner, zeigt eine Umfrage. Das Wirtschaftsblatt Les Echos ist nicht überrascht:
„Für die Extremisten, rechte wie linke, ist die Antwort so einfach wie unrealistisch: Die Rückkehr der Rente mit 60 Jahren, und sogar mit nur 40 Beitragsjahren für [Marine Le Pens] RN! … All diese Vorhaben können die Franzosen nicht überzeugen, die mehrheitlich begriffen haben, dass sie länger arbeiten müssen. ... Genau dafür sprechen sich die Republikaner aus. ... Allerdings legt die Partei aus Angst, als antisozial beurteilt zu werden, ein zumindest überraschendes System vor, das die beruflichen Belastungen berücksichtigt. … Und die Sozialisten gleiten immer weiter nach links, indem sie unmissverständlich die Rücknahme der Reform fordern.“
Rentenprivilegien auf Kosten anderer
Absolute Dreistigkeit wirft Le Figaro dem Gewerkschaftsbund CGT vor:
„Der Skandal für die CGT ist, dass die Regierung die Sondersysteme abzuschaffen wagt. Die aus dem vergangenen Jahrhundert geerbten Privilegien erlauben es Eisenbahnern und einigen anderen, viel früher als der Rest der Bevölkerung in den Ruhestand zu gehen und eine bequeme Rente zu beziehen. Diese zu bewahren, ist seit jeher das höchste Ziel der CGT. Nicht, wie sie vorgibt, um die Renten in ihrer Gesamtheit zu verteidigen, sondern die Renten der Angehörigen derjenigen Berufsverbände, die ihre letzten Bastionen sind. Die Franzosen hingegen sind aufgefordert, ohne aufzumucken, ein doppeltes Leid hinzunehmen: eine Blockade der Transportmittel, die ihren Alltag zur Hölle macht, und gleichzeitig die Weiterfinanzierung der kostspieligen Sondersysteme.“
Das Volk ist ungeduldig
Die Zusammenarbeit mit den Tarifpartnern nach skandinavischem Modell lässt sich offenbar nicht so einfach auf Frankreich übertragen, bilanziert Le Soir:
„Die Regierung hat geglaubt, durch Verlängerung der Konsultations- und Einigungsphase, so wie dies in den skandinavischen Ländern geschieht, den sozialen Aufstand entschärfen zu können. Doch wir sind in Frankreich. Die Langsamkeit wurde als Zögern aufgefasst und die gegenseitige Absprache als Beleg für Unschärfe. Das Land, in dem man sich am systematischsten auflehnt, ist auch das Land, in dem man die größte Entscheidungskraft besitzen muss.“
Macron muss eine echte Antwort geben
Die Proteste waren eine Warnung, erklärt Avgi:
„Der Ball befindet sich jetzt in den Händen des Regierungslagers. Man kann davon ausgehen, dass nun eine Kampagne der Beruhigung kommen wird - doch was die Bürger erwarten, sind politische Antworten von Präsident Macron und seinem Premierminister. Es ist jetzt entscheidend, wie die Regierung versucht, die Situation zu entschärfen, die Le Monde in einem Leitartikel als 'Warnung' bezeichnete. … Die Mobilisierung vom Donnerstag hat gezeigt, dass die Bürger wachsam sind und nach substanziellen, nicht nach kommunikativen Antworten suchen.“
Macrons Macher-Image hängt an dieser Reform
Der Ausgang der Reform hat auch Auswirkungen auf Macrons Europapolitik, erklärt die Neue Zürcher Zeitung:
„Gelingt es ihm, die Rentenreform durchzusetzen, dann kann er damit sein Image als Macher aufpolieren. Dieses hat durch die Gelbwesten-Proteste einige Schrammen abbekommen. Neuer Schwung für die zweite Hälfte seiner Amtszeit käme Macron gerade recht. Knickt er hingegen ein, ist seine Glaubwürdigkeit dahin. Und das nicht nur in Frankreich. Auch auf europäischer Ebene hätte es der Franzose dann schwer, die von ihm angestrebte Führungsrolle wahrzunehmen. Denn wer wird ihm seine Forderungen nach Reformen für Europa noch abnehmen, wenn er diese nicht einmal im eigenen Land umsetzen kann? Der Einsatz ist hoch, und das ist Macron bewusst.“
Nicht das Land ist unfähig, sondern die Regierung
Im Streit um die Renten wird klar, wer in Frankreich versagt, betont Le Point:
„Erklärt werden muss nicht die theoretische Umwandlung von Arbeitsjahren in Punkte, sondern die Notwendigkeit für die Franzosen, etwas länger zu arbeiten, wenn sie trotz höherer Lebenserwartung eine anständige Rente beziehen wollen. … Die Tragikomödie über die Renten zeigt nicht, dass Frankreich reformunfähig ist, sondern dass seine Regierenden verantwortungslos sind. Und dass nicht die Franzosen Änderungen ablehnen, sondern dass ihre Regierenden unfähig sind, diese zu vermitteln und kohärent umzusetzen.“
Neue Allianzen gegen das System
Die Proteste gegen die Rentenreform könnten der Start für neue politische Bündnisse werden, warnt Paris-Korrespondent Stefano Montefiore in Corriere della Sera:
„Der Präsident verfolgt das Reformprogramm, das ihn vor zweieinhalb Jahren in den Élysée-Palast gebracht hat, aber in der Zwischenzeit ist viel passiert. Neue spontane Gegenbewegungen wie die Gelbwesten sind entstanden, und auch traditionelle Gegner organisieren sich neu. Gestern standen auf dem Platz die Gewerkschaften, die Anhänger der extremen Rechten von Marine Le Pen und auch die der extremen Linken von Jean-Luc Mélenchon, der großmütig der ehemaligen ideologischen Feindin die Hand reichte [Er hatte in einem Interview ihren Aufruf zum Streik gelobt]. ... Der Kampf um die Renten könnte mit Blick auf die Präsidentschaftswahl 2022 zu einem Test für neue, breite Antisystemallianzen werden.“
Gewerkschaften verteidigen Partikularinteressen
Kein Verständnis für die Proteste hat The Times:
„Die Gewerkschaftsproteste fördern nicht jene Gleichberechtigung, für die sich die Arbeiterbewegung nach eigenen Angaben einsetzt. Stattdessen veranschaulichen sie die Verteidigung von Partikularinteressen auf Kosten der Steuerzahler. Die Aufrechterhaltung des derzeitigen Systems bedeutet, dass Frankreich etwa 14 Prozent des Nationaleinkommens für staatlich finanzierte Renten bereitstellt. Damit gehört es im Vergleich zu anderen Ländern zu den größten Geldgebern in diesem Bereich, gemessen am BIP. In Deutschland liegt der Wert bei zehn Prozent. In Großbritannien, wo der größte Teil der Renten vom privaten Sektor bereitgestellt wird, sind es sechs Prozent.“
Der Streik richtet sich gegen Macron
Wie schon bei den Gelbwesten richtet sich der Protest vor allem gegen den Präsidenten, glaubt Paris-Korrespondent Stefano Montefiori in Corriere della Sera:
„In der Logik des Konflikts, die auch die französische Politik dominiert, werden nicht so sehr die einzelnen Maßnahmen, sondern die sozioökonomische Ordnung diskutiert, auf der das Land noch basiert. ... Abgelehnt wird ein noch vager Plan, vor allem aber Macron und seine 'neoliberale und autoritäre' Regierung, wie 180 Intellektuelle und Künstler - von Annie Ernaux bis Robert Guédiguian, von Édouard Louis bis Thomas Piketty - in einem Aufruf in Le Monde schreiben, in dem sie ihre Nähe zu 'den Männern und Frauen, die kämpfen' erklären.“
Reifeprüfung für den Präsidenten
An der Rentenreform wird sich zeigen, ob Frankreichs Regierung tatsächlich zu großen Reformen fähig ist, kommentiert die Süddeutsche Zeitung:
„Seit mehr als einem Jahr schiebt die Regierung das Projekt vor sich her. Zu Anfang ihrer Amtszeit ist sie lieber leichtere, schnelle Reformen angegangen. Nun ist die Präsidentschaftswahl 2022 schon zu nah, als dass sich der Staatschef einen allzu harten Konflikt leisten könnte. ... Hinzu kommt, dass die Regierung wichtige Fragen seit Monaten unbeantwortet lässt. Etwa die, welche Geburtenjahrgänge die Reform betrifft. ... Der Präsident mag schon viel erreicht haben. Die Arbeitslosigkeit in Frankreich sinkt, die Investoren kommen zurück, die Konjunktur ist robust. Doch scheitert Macron bei der Rente, wird dieser Makel alles andere überdecken.“
Vorbildliches Rentensystem nicht zu Tode sparen
Die Rentenpläne gehen in die völlig falsche Richtung, klagt The Guardian:
„Die geplanten Reformen würden eines der besten Rentensysteme der Welt schwer beschädigen. In Frankreich sind nur sieben Prozent der älteren Menschen von Armut bedroht. Dies ist die niedrigste Rate in der EU, viel weniger als die 19 Prozent in Großbritannien und Deutschland. Dies dürfte auch ein Grund dafür sein, dass in Frankreich die Lebenserwartung etwas höher ist als in den beiden anderen Ländern. Ein solches System sollte wertgeschätzt und ausgebaut werden, nicht zurückgestutzt. ... Frankreichs Sozialstaat ist eine Weltklasse-Errungenschaft. Er sollte geschützt und nicht für Sparzwecke ausgehöhlt werden.“