Rentenreform: Frankreich kommt nicht zur Ruhe
Der Kampf um die geplante Rentenreform in Frankreich spitzt sich trotz Zugeständnissen der Regierung weiter zu. Zwar hatte Premier Edouard Philippe nach massiven Protesten eine abgeschwächte Version der kritisierten Pläne vorgestellt. Doch die seit zwei Wochen andauernden Streiks gehen unvermindert weiter. Kommentatoren betonen die mangelnde demokratische Legitimierung der Verhandlungspartner.
Macron ist gewählt, die Reform ist es nicht
Politis fordert einen Volksentscheid über die Reformpläne:
„Um in der Demokratie akzeptiert zu sein, müssen Autoritäten als legitimiert betrachtet werden. ... Ist die Tatsache, dass das Reformvorhaben im Programm Macrons stand, ein demokratisches Argument? Darf sich der Mann, der 2017 mit 24 Prozent der Stimmen [im ersten Wahlgang] und anschließend aus Ablehnung des Front National gewählt wurde, alles erlauben? Natürlich nicht. Man weiß, dass die Stimmabgabe aus vielfältigen und zwangsläufig widersprüchlichen Motivationen resultiert. Legitimität bedarf daher manchmal einer Bestätigung, vor allem, wenn rund eine Million Gegner auf die Straße gehen. Ist es nicht offensichtlich, dass für ein Projekt, das unsere gesellschaftliche Ordnung durcheinanderbringt, eine gesonderte Befragung, also ein Referendum, selbstverständlich sein sollte? “
Straßenprotest ist so wichtig wie legitim
Proteste werden in Frankreich deshalb so rasch zu Volksaufständen, weil es keine etablierten Vermittlungsebenen zwischen Volk und Staat gibt, analysiert der Soziologe Massimiliano Panarani in La Stampa:
„In einem Land, in dem vermittelnde Institutionen deutlich schwächer und weniger verwurzelt sind als anderswo in Europa, ist der spontane Aufstand automatisch legitimiert, weil das die Art und Weise ist, mit der sich die Menschen bei der Macht Gehör verschaffen können. ... Jenseits der Alpen werden Aufstand und Erhebung (und unter Umständen selbst Gewalt) daher als zulässige und berechtigte Mittel sozialer Proteste angesehen.“
Gewerkschaften vertreten keine Mehrheit
Den Gewerkschaften wird zu großes Mitspracherecht eingeräumt, klagt Soziologe Denis Monneuse in Slate:
„Die Regierung verhandelt im Wesentlichen (um nicht zu sagen ausschließlich) mit den 'Tarifpartnern', als ob deren Legitimierung selbstverständlich sei. Dabei haben die Gewerkschaften kein Mandat von den Franzosen erhalten, vertreten keine Mehrheit und verteidigen nicht das Allgemeininteresse. Die Rentenreform ist eine zu ernsthafte Angelegenheit, als dass man sie den Gewerkschaften anvertrauen darf. … Man muss die Gewerkschaftsbünde wie Lobbys oder Interessenverbände betrachten. ... Im Sinne der Fünften Republik kann ein so wichtiges und allgemeines Thema wie die Renten am besten im Parlament oder durch ein Referendum entschieden werden.“
Linke profitieren von Macrons Politik
Der Protest gegen die Rentenreform schweißt Frankreichs Linke zusammen, beobachtet Avgi:
„Die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei, die Grünen und weitere nähern sich - ohne ihre Differenzen zu verschleiern - einem gemeinsamen Ziel: der Rücknahme des geplanten Gesetzes durch die Regierung. In diesem Zusammenhang werden in den kommenden Tagen neue gemeinsame Aktionen unter dem zentralen Motto 'Eine andere Reform ist möglich' erwartet. ... Es ist das erste Mal seit vielen Jahren, dass alle Äußerungen der Linken eine gemeinsame Front bilden - ein 'Nebeneffekt' der Politik von Macron.“
Politische Tragödie ohnegleichen
Frankreich steht am Abgrund, konstatiert Historiker und Politikberater Maxime Tandonnet besorgt in Le Figaro:
„Für die Regierungsmannschaft ist das Match bereits verloren, egal wie es ausgeht. Ein Zurückrudern lehnt sie ab, da dies das Ende der Präsidentschaft wäre. … Doch die anderen Szenarien sind auch nicht besser. … Wem soll man nach so einem Desaster noch glauben und zuhören? Die Oppositionsparteien sind ebenfalls am Zusammenbrechen. Die 'Extremen' scheitern permanent wegen ihrer verrückten Ideen und Provokationen. Die regierungserfahrene Rechte brilliert auch nicht durch Kohärenz und Zusammenhalt. … Frankreich steckt in einem beispiellosen Chaos und finsteren politischen Vakuum. In dieser heftigen Vertrauenskrise braucht das Land dringend eine höhere moralische Autorität, eine visionäre Weisheit, die das Land eint.“
Eine positive Überraschung
Premier Edouard Philippe hat einen guten Kompromiss gefunden, lobt Le Figaro:
„Die Versuchung war groß, in dem Sturm, der durch Frankreich fegt, gegenüber denjenigen nachzugeben, die die Sicherstellung einer ausgeglichenen Finanzierung der Renten als nachrangig betrachteten. ... Der Premier hat dieser Bequemlichkeit widerstanden. Die sanfte Einführung eines dem Ausgleich dienenden Renteneintrittsalters von 64 Jahren wirkt wie ein vernünftiger Kompromiss, der eine dauerhafte Finanzierung unserer Renten sicherstellt ... Nicht zuletzt sieht die Reform die Abschaffung der Sonderregelungen für gewisse Berufskategorien vor, die durch nichts mehr zu rechtfertigen sind.“
Macron hat schon verloren
Macron wird nun zwischen zwei Übeln entscheiden müssen, meint die Süddeutsche Zeitung:
„Entweder er zwingt die Reform durch das Parlament, ohne auf die gemäßigten Gewerkschaften Rücksicht zu nehmen. Dann steht er als Spalter eines ohnehin zerrissenen Landes da. Oder Macron gibt nach ersten Zugeständnissen vom Mittwoch auch der Forderung nach, auf eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit zu verzichten, verwässert so die Reform weiter, opfert womöglich den Premierminister. Dann aber verliert Macron sein wichtigstes Gut: seine politische Identität als furchtloser Reformer. Entspricht er ihr nicht mehr, wird sich seine Wählerbasis abwenden.“