Muss Merkel jetzt gehen?
Nach dem Eklat von Thüringen und dem Rücktritt der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer sehen viele Kommentatoren Deutschland führungslos dahinwabern und fürchten ein Machtvakuum in der Mitte Europas. Es entspinnt sich eine Debatte, ob es an der Zeit ist, dass die Bundeskanzlerin zurücktritt, um den Weg für einen Neuanfang freizumachen.
Deutschland ist ein Spiegel für Europa
Beunruhigt über die Verhältnisse in der CDU zeigt sich Massimo Riva in seiner Kolumne in La Repubblica:
„Die erste unvermeidbare Folge der deutschen Krise ist, dass die Berliner Regierung in den kommenden Monaten zwar in Brüssel präsent, aber mit Kopf und Herz von innenpolitischen Fragen abgelenkt sein wird. Doch dass die europäische Agenda gebremst wird, ist noch nicht die alarmierendste Auswirkung. ... Wirklich beunruhigend ist der Grund für den politischen Sturm in Berlin - Deutschland teilt ihn mit anderen europäischen Ländern, einschließlich Italien: Der Rückzug von Frau Annegret K-K zeigt ihre Unfähigkeit, gegen die tiefe Spaltung anzugehen, die innerhalb der großen deutschen politischen Partei besteht und einen wesentlichen Punkt betrifft, nämlich die Beziehung zum nationalistischen Extremismus.“
Machtspiele sind nur die Spitze des Eisberges
Merkel hinterlässt ihrer Partei und Deutschland ein schwieriges Erbe, konstatiert Lidové noviny:
„Die Abwanderung von Unions-Wählern zur AfD ist ein großes Problem. Doch was tun? Soll sich die CDU, die die AfD ignoriert, selbst zu dauernden Koalitionen mit SPD, Grünen und womöglich Postkommunisten verurteilen? Friedrich Merz will traditionell rechte Wähler zurückgewinnen. Während Merz an der Basis beliebt ist, fürchtet ihn die CDU-Führung. Bei all dem ist das, was in der CDU bei der Übergabe der Macht von Merkel passiert, nur die Spitze des Eisberges. In München warnte die US-Demokratin Nancy Pelosi vor einer Zusammenarbeit Europas mit Huawei. Die Deutschen aber fürchten laut Allensbach ganz anderes. 78 Prozent fordern mehr Kameras in öffentlichen Räumen. Das ist das Vermächtnis der Ära Merkel.“
Die Ära Merkel hat sich überlebt
Merkels Regierungsstil funktioniert nicht mehr, erklärt Diário de Notícias:
„Sie zog die Stille und kontemplatives Management immer Schockinterventionen vor, um sich durchzusetzen. Dieser Stil hat einige Vorzüge, aber auch hohe Risiken. Die Kanzlerin ist vor allem eine ständige Krisenmanagerin, mit manchmal mehr und manchmal weniger Erfolg. Das gewählte Gleichgewicht wurde geschätzt. Ihr Zentrismus mündete letztendlich nicht in die klassische Mitte-Rechts-Partei, sondern in einer große Koalition, die von den Wählern der CDU bis zur FDP über die SPD und die Grünen reichte. ... Dieser gespannte Bogen geht heute aufgrund verschiedener antisystemischer Belastungen unter. “
Kanzlerin wird für Deutschland zum Klotz am Bein
Für Kristeligt Dagblad sind die Konsequenzen aus den jüngsten politischen Verwerfungen klar:
„Angela Merkel hinterlässt die CDU ohne einen klaren Kompass und sollte als Kanzlerin zurücktreten, bevor Deutschland im Sommer die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. Auch wenn sie international immer noch Respekt genießt, wird nicht sie diejenige sein, die dem französischen Superföderalisten Emmanuel Macron eine Antwort auf seine Vorschläge gibt oder einen neuen visionären Kurs für die EU absteckt. Merkels nüchterne und pragmatische Art war ein Gewinn innerhalb der EU, aber ihre Ära ist vorbei und neue Kräfte müssen ans Ruder. Ein innenpolitisch gelähmtes und unberechenbares Deutschland ist das Letzte, was Europa nach dem Brexit braucht.“
Schneller Rückzug ist kaum vorstellbar
Rzeczpospolita glaubt nicht, dass Merkel bald das Feld räumt:
„Mitte dieses Jahres beginnt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, und es ist kaum vorstellbar, dass Angela Merkel in diesem Moment plötzlich verschwinden wird. Sie ist nach wie vor die beliebteste Politikerin in Deutschland und genießt die Anerkennung von zwei Dritteln der Bürger. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass die wichtigste Aufgabe der CDU darin besteht, sich auf die Wahlen im nächsten Jahr vorzubereiten. Ihr Erfolg hängt davon ab, wen sie bis zum Sommer dieses Jahres zur neuen Parteiführung wählt.“