Freispruch im Gezi-Prozess sogleich überschattet

Die Erleichterung währte nur kurz: Am Dienstag war Osman Kavala in einem Prozess um die Gezi-Proteste zusammen mit acht weiteren Angeklagten überraschend freigesprochen worden. Doch bereits wenige Stunden später wurde gegen den Kulturmäzen ein neuer Haftbefehl erlassen, nun laut staatlicher Nachrichtenagentur in Zusammenhang mit dem Putschversuch 2016. Europas Kommentatoren reagieren bestürzt.

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tagesschau.de (DE) /

Staatsanwaltschaft macht sich lächerlich

Was hinter der erneuten Festnahme Kavalas steckt, erklärt der Istanbul-Korrespondent der ARD, Christian Buttkereit, auf tagesschau.de:

„Im Dezember hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die sofortige Freilassung Kavalas aus der damals schon zweijährigen Untersuchungshaft gefordert. Rechtskräftig würde das Urteil am 10. März. Mit der Entscheidung im Gezi-Prozess ist das hinfällig. Bei einer erneuten Untersuchungshaft wegen eines neuen Haftgrundes wird von vorn gezählt. Die Türkei hat damit formal dem Urteil aus Straßburg Rechnung getragen. Mit diesem Manöver gibt die Istanbuler Staatsanwaltschaft, oder wer auch immer hinter ihrem Gebaren steckt, sich gerade der Lächerlichkeit preis. Und nicht nur das. Sie schadet dem Ansehen der Türkei.“

Karar (TR) /

Bürger stehen Machtmissbrauch wehrlos gegenüber

Derlei Justizpossen sind nur möglich, weil sich Staatsbeamte dafür einspannen lassen, schimpft Karar:

„Unsere Gesetze verbieten Amtsmissbrauch. Das ist ein Verbrechen, das strafrechtlich verfolgt wird. Dieses Verbot betrifft auch Richter, Staatsanwälte und Polizeibeamte. ... Doch die Gesetzeshüter werden immer wieder zu Lasten der Bürger protegiert, und derjenige, der sein Amt missbraucht, kommt ungestraft davon, was dazu führt, dass dieses Verhalten kein Ende nimmt. Der Bürger ist wehr- und schutzlos gegenüber Beamten, die ihre Kompetenzen überschreiten und sich für Gesetzeslosigkeiten instrumentalisieren lassen. Oft wird ihnen sogar der Rechtsweg versperrt. Die Mächtigen können es sich leisten, sich nicht darum zu scheren.“

Dagens Nyheter (SE) /

Erdoğans Wille ist der Justiz Befehl

Für Dagens Nyheter tun sich in der Türkei immer mehr Abgründe auf:

„Erdoğan hat die Kontrolle über die Justiz übernommen und Kavalas Freispruch passte nicht in den Plan. Im Dezember wurden die Forderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nach sofortiger Freilassung ignoriert. Zehntausende Beamte wurden in den letzten vier Jahren entlassen oder inhaftiert. Viele Abgeordnete der kurdischen HDP sitzen hinter Gittern. Der Staat hat Medienunternehmen beschlagnahmt oder sie von Freunden des Präsidenten übernehmen lassen. Eine neue Verfassung hat ihn fast zum Alleinherrscher gemacht. Ihn zu 'beleidigen' ist illegal. Die autoritäre Regierung zerstört täglich die Überreste der Demokratie in der Türkei. Erdoğans Wille geht vor Gerechtigkeit.“