Corona: Alle Macht der Wissenschaft?

Während der Covid-19-Pandemie stehen Wissenschaftler wie selten zuvor im Fokus der Aufmerksamkeit. Vor allem Virologen und Epidemiologen, aber auch die zuständigen Behördenchefs sind in vielen Ländern zu Gesichtern der Krise geworden. Doch Europas Kommentatoren warnen vor falschen Erwartungen und blindem Vertrauen.

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Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Paternalismus ist das falsche Rezept

Niemand kennt den Königsweg aus der Krise, gibt Journalistin Claudia Wirz in der Neuen Zürcher Zeitung zu bedenken:

„Es wimmelt nur so von Experten, die uns sagen, was wir tun und lassen sollen. Dabei ist die Vorstellung einer weisen Elite, die uns sicher durch die Krise navigiert, eine Illusion. ... Natürlich ist es wichtig, auf den Rat der verschiedenen Experten zu hören. Aber genau das spricht gegen den Paternalismus. Weil niemand die absolute Wahrheit kennt, bringt erst der Wettbewerb der Meinungen und Erfahrungen die nötige Erkenntnis. Deshalb muss die Eigenverantwortung das Gebot der Stunde sein.“

Le Figaro (FR) /

Die erhoffte Erlösung gibt es nicht

Die Wissenschaft wird in eine Rolle gedrängt, die ihrer Natur widerspricht, warnt der kanadische Soziologe Mathieu Bock-Côté in Le Figaro:

„Man befragt sie wie ein Orakel und träumt sogar davon, sie an die Macht zu bringen. Die Regierenden sind zunehmend geneigt, ihre Entscheidungen zu begründen, indem sie sich mit anerkannten Experten umgeben, so als würden sie eindeutige wissenschaftliche Empfehlungen umsetzen. ... Man vergisst jedoch, dass die Wissenschaft nicht als enthülltes und definitives Wissen daherkommt, sondern als eine Reihe von Hypothesen, die stets diskutabel, unvollendet und ständiger Neubewertung unterworfen sind. Die Fortschrittlichen träumen ganz offensichtlich von einem endgültigen Wissen, das die Komplexität unserer Existenz aufhebt und sogar die Angst vor dem Tod nehmen kann. So versuchen sie, der Wissenschaft die Rolle zuzuteilen, die früher der Religion zukam.“

Azonnali (HU) /

Expertenrat kann tödlich sein

Wissenschaft ist nie objektiv, betont Azonnali:

„Die aktuelle Situation sollte uns nachdenken lassen über die sogenannten Expertenmeinungen zum sogenannten Klimawandel. Die aktuelle Situation zeigt uns im Kleinen, wohin die Begrenzung des Konsums und der Produktion auf Anordnung der Virologen führen kann. Die obere Mittelschicht der Ersten Welt kann die Folgen noch ertragen. ... Aber die ganze Dritte Welt und die unteren Gesellschaftsschichten der Ersten Welt wird der Absolutismus der Experten das Leben kosten. Die aktuelle Pandemie zeigt: Auch in anderen Fragen sollten wir den ideologisch motivierten und politisch manipulierten Virologen und Biologen nicht kritiklos alles glauben.“

Aargauer Zeitung (CH) /

Deutungshoheit nicht den Virologen überlassen

Naturwissenschaftler sind nicht die einzigen, die Wege aus der Krise aufzeigen können, findet die Aargauer Zeitung:

„Dass die Politik auf die Wissenschaft hört, ist richtig. Wissenschafter gibt es aber nicht nur in der Virologie und Epidemiologie. Zurzeit wäre beispielsweise auch das Wissen von Ökonomen, Psychiatern und Verfassungsrechtlern besonders wichtig. Sie scheinen weniger Gehör zu finden, und das ist falsch. Wenn nun der Weg aus dem Lockdown beschritten wird, sollte die Politik ihre Entscheide ganzheitlich treffen - und sich etwa vor Augen halten, dass Firmenkonkurse und Massenarbeitslosigkeit zu Depressionen und gar zu Suiziden führen können. ... Eines ist klar: Wissenschafter liefern die Fakten, die Politiker treffen die Entscheide. Und die Politiker werden dafür auch die Verantwortung übernehmen müssen.“

De Volkskrant (NL) /

Zu viele Köche verderben den Brei

Dass der niederländische Premier Mark Rutte weiter dem Rat von nur wenigen Wissenschaftlern folgt, hält De-Volkskrant-Kolumnist Bert Wagendorp für richtig:

„Rutte ist abhängig von Experten, Virologen, Infektiologen und Mikrobiologen. ... Weil das Coronavirus viele dieser Experten vielfach auch vor Rätsel stellt, bekommt die Regierung Rat von den Einäugigen im Land der Blinden. ... Das Virus folgt einem komplizierten, aber eindeutigen Drehbuch. Es erscheint mir klug, dies mit einer eindeutigen Strategie zu bekämpfen und das Kommandozentrum klein zu halten. Wenn man dem noch ein paar Psychologen, Ökonomen oder Ethiker hinzufügen würde, die teuflische Dilemmas aufzeichnen, wird das Mark Ruttes Ende. Und das brauchen wir jetzt nicht auch noch.“

Dagens Nyheter (SE) /

Die Sehnsucht nach Ersatzgöttern

In Schweden steht ein Großteil der Bevölkerung hinter dem Staatsepidemiologen Anders Tegnell und seinem Konzept möglichst geringer Beschränkungen. Dass ein Tegnell-Fanklub gegründet wurde und selbst traditionelle Medien sich in schwärmerischen Huldigungen ergehen, geht Dagens Nyheter entschieden zu weit:

„Schweden hat Gott abgeschafft und gilt mittlerweile als das säkularste Land der Welt. Vielleicht hat das mit dazu beigetragen, dass das Phänomen des Personenkults in der jüngeren Vergangenheit hier so extrem erstarkt ist. Unser [Ersatzgott] war lange der Psychologe, der dann in den 2010er Jahren vom Ideologen abgelöst wurde. Vielleicht werden die 2020er Jahre ja zur Ära des Wissenschaftsexperten? 2020 ist jedenfalls das Jahr Anders Tegnells. Auch wenn ich mutmaße, dass dieser reservierte Akademiker davon gar nicht besonders angetan ist.“

eldiario.es (ES) /

Zu symphatisch, um wahr zu sein

Fernando Simón leitet den Einsatzstab im spanischen Gesundheitsministerium und ist durch seine Ruhe und Bescheidenheit zum Sympathieträger geworden. Doch die Opposition bezweifelt seine Fachkompetenz und seit Kurzem gibt es eine Hetzkampagne in den sozialen Netzwerken. eldiario.es gibt eine ironisch gemeinte Anleitung, wie es einem gelingen kann, diesen Menschen zu hassen:

„Hör dir auf keinen Fall an, was er sagt. Wendest du dich nicht sofort von ihm ab, wird es dir nie gelingen, ihn zu hassen. ... Denn hörst du ihm täglich zu, verfällst du seinem Zauber und er wird dir nett, menschlich oder gar sympathisch vorkommen. ... Schau stattdessen aus dem Zusammenhang gerissene Ausschnitte in sozialen Netzwerken an, zum Beispiel 'Fernando Simón lacht über die Toten' oder 'Fernando Simón versichert uns, dass es nur eine kleine Grippe sein wird'.“

Le Soir (BE) /

Jugend und Zivilgesellschaft mitentscheiden lassen

Die Bürgergesellschaft und insbesondere die jungen Menschen müssen bei der Entwicklung eines Konzepts zur Überwindung der Corona-Krise mitreden, fordern Mitglieder des Forum des Jeunes, das die französischsprachige Jugend Belgiens bei UN-Veranstaltungen vertritt, in Le Soir:

„Die Entscheidungen der kommenden Wochen sind politischer Natur und können nur getroffen werden, nachdem sämtliche betroffenen Parteien zu Rate gezogen wurden. ... Ob sie auf Experteninformationen basiert oder nicht, die Ausarbeitung der Nach-Covid-Strategie umfasst einen Anteil an kollektiven Entscheidungen. Dies ist umso wichtiger, als dass die Wege, die wir in den kommenden Tagen einschlagen werden, langfristig ausschlaggebend sein werden. Gerade weil eine Krisenstimmung es gewissen Ideen erlaubt, sich tief zu verankern, verdienen es die jungen Menschen, dass man ihnen Gehör schenkt.“