Corona: Wie steht es um Europas Lernfortschritt?
Die Neuinfektionen mit dem Coronavirus sind in Europa insgesamt weiter rückläufig – wobei zuletzt in mehreren Ländern Lockerungen zurückgenommen wurden, nachdem die Kennzahlen wieder stiegen. Kommentatoren ziehen in diesen Wochen Zwischenbilanz: Welche Lehren hat Europa aus der Pandemie gezogen, welche Erkenntnisse wären noch nötig?
Riskanter geopolitischer Lockdown
Dass in der Pandemie die Außenpolitik vernachlässigt wird, besorgt Italiens frühere Vize-Außenministerin Marta Dassù in La Repubblica:
„Sich in der Wohnung oder innerhalb der Landesgrenzen einzuschließen, ist Teil des Covid-Syndroms. Auch nach dem Ende des Lockdowns. Es ist eine geistige Einstellung, die laut Psychologen noch lange anhalten wird. Sie hat wirtschaftliche und soziale, aber auch geopolitische Folgen: Wer hat in der Welt von Covid schon Lust, sich mit Außenpolitik zu beschäftigen? ... Die Außen- und Verteidigungspolitik scheint ein Nebenopfer des Virus zu werden. Der Punkt ist aber, dass wir uns das nicht leisten können. Nehmen wir Libyen als Beispiel. Die Versuchung, das Problem zu verdrängen, ist sehr groß.“
Freizügigkeit gerät verstärkt unter Druck
In der Corona-Krise hat sich gezeigt, dass offene Grenzen in Europa alles andere als eine Selbstverständlichkeit sind, bemerkt El País:
„Das Projekt der EU-Kommission, das die Außengrenzen weniger durchlässig machen und die Ausweisung von Ausländern ohne Recht auf Asyl beschleunigen soll, wird kaum früher als in einem Jahr beschlossen werden. In der Zwischenzeit führt das zu großem Spielraum für unterschiedliche Grenzpraktiken. Die Freizügigkeit als eine der Grundsäulen der EU wurde in den vergangenen Jahren mehrmals auf die Probe gestellt. Die Terrorgefahr und die Flüchtlingsströme über die EU-Grenzen im Jahr 2015 führten bereits zu ersten Ausnahmen. Nun besteht das Risiko weit größerer Blockaden in der nahen Zukunft, die mit der Pandemie begründet werden.“
Wir haben das Virus im Griff
Die in einzelnen lokalen Hotspots immer wieder sprunghaft steigenden Infektionszahlen sind kein Grund zur Sorge, erklärt Denik:
„Die Idee, dass das Coronavirus einfach so verschwindet, ist attraktiv, aber unwahrscheinlich. Jetzt etwa hat es den stellvertretenden Bürgermeister von Prag, Petr Hlubuček, erwischt. Sein Fall zeigt jedoch, wie präzise und streng die Mitarbeiter des Gesundheitswesens das mittlerweile bestehende Quarantäne-System nutzen können. … Mit großer Sicherheit kann gesagt werden: Die Pandemie bei uns und in den umliegenden Ländern ist vorbei. Die Krankheit bleibt bestehen, aber das Gesundheitswesen kann damit umgehen.“
Der Lockdown hat Ungleichheiten verschärft
Die Pandemie hat die Gräben der Gesellschaft noch vertieft, klagt Kolumnist Antonio Polito in Corriere della Sera:
„Im hundert Tage langen Lockdown gab es diejenigen, die wie zuvor in Armut lebten, eingepfercht mit ihren Kindern auf 40 Quadratmetern, auf der Suche nach Billigprodukten beim täglichen Einkauf. ... Dann gab es das Italien der Mitte: Menschen, die zu Hause bleiben konnten, aber ihr Einkommen verloren. Verbrannte Ersparnisse und eine große Angst vor dem, was noch kommen wird. Für sie beginnt jetzt das Schlimmste. Und schließlich die 'white collars', die ihren Platz und ihr Gehalt behalten haben, über Wlan und Netflix verfügen, die Homeoffice und Bikesharing machen. ... Zu Hause haben sie Zuneigung, Langsamkeit, Gastronomie, Kinder und die Liebe in der Ehe wiederentdeckt. Und wären fast gerne noch etwas länger im Lockdown geblieben.“
So klingt der Applaus nur zynisch
Corona und seine Folgen drohen den Abstand zwischen unten und oben weiter zu vergrößern, befürchtet auch Der Standard:
„Weiter wie vor Corona, das heißt auch: Vom Balkon aus wird 'denen da unten' weiter gesagt, dass sie alles falsch machen. Sie bilden sich zu wenig, sie wollen Billigfleisch und sind zu dick. Sie bewegen sich zu wenig, sind zu wenig umweltbewusst, und obendrein wählen sie auch noch falsch. Falsch läuft aber ganz etwas anderes. Die Ungleichheit verschärft sich. Die Chancenverteilung ist noch unfairer, nicht nur, aber sehr stark gegenüber Frauen und ihren Kindern, die es sich nicht richten können. ... Tatsächlich hat die Debatte um systemrelevante Arbeit klar wie nie gezeigt, dass diese Menschen überwiegend zu den Niedrigverdienern zählen. Genau das muss jetzt geändert werden, sollte der Applaus vom Balkon nicht zynisch gemeint gewesen sein.“
Lebenswichtige Berufe sind unterbezahlt
Der sozialdemokratische Innenminister der Schweiz, Alain Berset, fordert im Tages-Anzeiger die Aufwertung von Care-Berufen:
„Gerade in sogenannt systemrelevanten Berufen werden zum Teil niedrigste Löhne bezahlt, sind die Arbeitsbedingungen oft schlecht - von der Alterspflege über die Kinderbetreuung bis zur Lebensmittelversorgung. Die einschlägige Begründung lautet, die Wertschöpfung sei bei diesen Tätigkeiten halt gering. Ökonomisch mag das stimmen, aber dafür ist die soziale Wertschöpfung umso höher. Ein faires Land sucht aktiv nach seinen Gerechtigkeitslücken und wartet nicht selbstgefällig ab, bis diese unübersehbar klaffen. 'Systemrelevante Berufe'? Bezeichnen wir diese Tätigkeiten doch künftig als das, was sie sind: 'lebenswichtige Berufe'. ... Wer es mit der Wertschätzung der lebenswichtigen Berufe ernst meint, drückt diesen Wert auch in Franken aus.“
Jeder bleibt sich selbst der Nächste
In Kroatien herrscht Empörung darüber, dass Österreich seine Bürger aus wirtschaftlichem Interesse daran hindern will, den Sommerurlaub an der Adria zu verbringen. Doch Zagreb handelt nicht anders, meint Večernji list:
„Staatsinteressen kommen, das ist derzeit deutlich sichtbar, an erster Stelle im Prozess der Erholung von der Corona-Krise, und manche Staaten werden gewinnen, andere verlieren. War die Entscheidung Kroatiens, als erstes europäisches Land die Grenzen für diejenigen zu öffnen, die ihren Urlaub hier verbringen wollen, von epidemiologischen oder doch zuallererst von wirtschaftlichen Überlegungen geleitet? ... Soviel man auch von Koordination und Solidarität innerhalb der EU spricht, wird die Politik zu Zeiten von Post-Corona und Wirtschaftskrise zuerst von den Interessen jedes Mitgliedsstaats geleitet werden.“
Demokratien haben sich behauptet
Letztendlich haben sich gerade die Demokratien im Kampf gegen das Virus bewährt, konstatiert Kolumnist Ferruccio de Bortoli in Corriere del Ticino:
„Dort, wo die Rechtsstaatlichkeit tiefe und uralte Wurzeln hat, haben die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie bessere Ergebnisse erzielt, weil sie von einer aktiven Bürgerschaft mitgetragen wurden. Die äußerst verantwortungsbewussten, umsichtigen Führungskräfte, darunter auch die, die die Demut hatten, ihre Fehler einzugestehen, erschienen alles andere als schwach – ganz im Gegensatz zu der Vulgata zu Beginn des Jahres, laut der die harte Faust oder die Peitsche bei der Bekämpfung des Virus erfolgreicher gewesen wäre. Sie haben politische Stärke bewiesen.“
Und schon wieder Chaos
Viele EU-Länder sind derzeit dabei, die Covid-19 Einschränkungen aufzuheben. Diena beschwert sich über das Chaos:
„Noch im März haben die EU-Politiker versprochen, dass sie niemals wieder so ein Chaos wie damals zulassen werden, als die Länder ihre Binnengrenzen in wirrem Durcheinander geschlossen haben. Auch andere Zusagen, die EU in der Zukunft einheitlicher zu machen, waren nur leere Versprechungen. Denn auch heute ist die Öffnung der EU-Binnengrenzen, Vereinfachung von Einreisebedingungen und die Situation, mit der die Reisenden rechnen müssen, sehr unterschiedlich und ändert sich fast jede Stunde. Wie in den 1990er-Jahren: Wenn jemand ins Ausland fuhr, war es unmöglich, etwas zu planen. Die Bedingungen änderten sich unerwartet und die Reisenden mussten sich anpassen.“
Gesundheitswesen braucht Nachbesserungen
Italiens Gesundheitssektor muss dezentraler organisiert werden, analysiert Avvenire:
„In dieser Coronavirus-Krise konnten wir die Kapazitätsgrenzen der großen Krankenhäuser (und Intensivstationen) austesten und haben ihre Fragilität und Insuffizienz gesehen. Wenn sich die Gesundheitsversorgung allein auf die Krankenhäuser stützt, steigt das Risiko, dass sie durch einen außergewöhnlichen Zulauf unter Druck geraten. Die Kliniken haben eine heldenhafte Arbeit geleistet, aber leider waren sie auch Orte der Ansteckung und Verbreitung des Virus. Ebenso wurden Alten- und Pflegeheime zu Multiplikatoren der Ausbreitung. ... Diese Geschehnisse zeigen uns nachdrücklich, dass das Gesundheitssystem und die Altenpflege eine zweite Säule brauchen: ein dezentralisiertes, kapillares Versorgungsnetz, das die Überlastung zentraler Strukturen verhindert.“
Offenheit zahlt sich aus
Das schweizer System hat sich wieder einmal bewährt, freut sich Corriere del Ticino:
„Die wirtschaftliche Öffnung der Schweiz führt zu einem besseren Zugriff auf Güter, die im Inland nur schwer oder gar nicht hergestellt werden können, und erhöht gleichzeitig den Absatz von Schweizer Unternehmen. Die Rückkehr zu mehr Protektionismus war schon vorher falsch und bleibt es auch nach den Erfahrungen mit dem Virus und den Kontroversen um Masken und andere Dinge: Mit guten Handelsabkommen und der Diversifizierung ausländischer Lieferanten können die Probleme angegangen werden. Schließlich ermöglicht die seit Jahren erprobte Haushaltsdisziplin mit der richtigen Schuldenbremse, die höheren Ausgaben, die in dieser Phase auf die öffentliche Hand zukommen, zu bewältigen und eine noch schlimmere Krise zu vermeiden.“
Verwaltung hat Zeit vergeudet
Die desaströse menschliche und wirtschaftliche Bilanz der Corona-Pandemie in Frankreich ist auf die Trägheit der Behörden zurückzuführen, kritisiert Historiker Pierre Vermeren in Causeur:
„Frankreich verfügt über einen zentralisierten Verwaltungsapparat, mit dem es möglich gewesen wäre, unseren Versorgungsmangel, insbesondere in Sachen Material (Masken, Tests, Kittel, Thermometer) schleunigst zu beheben. Es hat sich herausgestellt, dass der Staat zwischen Mitte Januar und Mitte März wertvolle Zeit verloren hat, während die Deutschen und asiatische Länder handelten. … Doch was ist passiert, als der Präsident am 16. März den Krieg ausgerufen hat? Man kann nur konstatieren, dass die Verwaltung langsam herbeigeeilt ist, da jede Behörde sich vor Verantwortung zu drücken versuchte und jede Führungskraft sich auf Regeln berief, die ein Krieg eigentlich beiseite fegen sollte.“
Hoffentlich nie wieder getrennt
Die Wiedereröffnung der tschechisch-slowakische Grenze in der Nacht zu Donnerstag war ein sichtbares Zeichen für die Fortschritte bei der Corona-Bewältigung, ist Lidové noviny erleichtert:
„Das ist das Ende der Grenzkontrollen mit dem Staat, der uns am nächsten ist und wo viele von uns Verwandte, Freunde und Bekannte haben. Eine Schließung der Grenze sollte sich nie wiederholen. Man kann dafür und für andere drastische Maßnahmen nur schwer jemanden kritisieren. Es galt, ohne Informationen und Erfahrungen die Ausbreitung der neuen Krankheit und überflüssige Todesopfer zu verhindern. Jetzt ist alles anders. Wir wissen sehr viel mehr über das Virus. Eine womögliche zweite Welle der Krankheit sollte niemanden mehr überraschen. Eine Schließung der Grenze und des ganzen Landes droht nicht mehr.“