Bulgarien: Proteste gegen Borissow dauern an
Seit Wochen protestieren Tausende Bulgaren gegen die Regierung von Premier Bojko Borissow. Die Demonstranten bezichtigen die Regierung, mit kriminellen Oligarchen verbandelt zu sein. Borissow reagierte mit zusätzlicher sozialer Unterstützung zur Dämpfung der Corona-Krise sowie mit der Entlassung von fünf Ministern. Die meisten Kommentatoren sehen dennoch das Ende der Ära Borissow nahen.
Der Buhmann hat durchaus etwas geleistet
Trotz seiner Verstrickungen in die Korruption kann der Premier von sich behaupten, dass er für die Bulgaren einiges erreicht hat, meint hvg:
„Bojko Borissow stellt sich gerne so dar, als gäbe es niemand außer ihm, der das Land mit so vielen EU-Mitteln versorgen und diese so fest in der Hand halten kann. Einstweilen führt kein Weg an ihm vorbei. Seine Partei ist bei weitem die populärste. ... Zwar hat die Borissow-Regierung gegen die Korruption und für die Unabhängigkeit und Läuterung der Justiz nicht genug getan, um Mitglied der Schengen-Zone zu werden. Der Regierungschef kann aber von sich behaupten, dass er erreicht hat, dass das Land ins Vorzimmer der Eurozone eintreten kann.“
Hat Brüssel dazu gar nichts zu sagen?
Die EU muss zu den Protesten in Bulgarien Stellung beziehen, fordert Dnevnik:
„Wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs auf die Forderungen der Menschen nach Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in einem Mitgliedstaat nicht angemessen reagieren, wirkt sich dies negativ auf die gesamte EU aus. … Die deutschen, französischen und schwedischen Steuerzahler interessiert es, wie ihre Steuern in der EU ausgegeben werden. Die Proteste gegen die Korruption in Bulgarien betreffen insofern alle. ... Wenn die Europäische Staatsanwaltschaft Ende des Jahres ihre Arbeit aufnimmt, sollte sie überprüfen, wie die bulgarische Regierung EU-Mittel ausgibt. Dann könnte es aber zu spät sein.“
Machtwechsel hätte nur einen Effekt
Eine Rückkehr der Sozialisten an die Macht hätte vor allem außenpolitischen Einfluss, analysiert Artem Filipenko vom National Institute for Strategic Studies in Ukrajinska Prawda:
„Das Problem ist, dass sich nach den Protesten von 2013-2014 in Bulgarien keine politische Kraft gebildet hat, die aus einer zivilgesellschaftlichen Initiative entstanden ist und nicht mit Oligarchen verquickt war. ... Deshalb wird auch eine Rückkehr der Sozialisten an die Macht - und das dürfte das wahrscheinlichste Ergebnis von vorgezogenen Wahlen sein - die Situation im Land nicht radikal ändern, sind die doch nicht weniger korrupt als [Borissows konservative] Gerb-Partei. Der außenpolitische Kurs Bulgariens könnte jedoch russlandfreundlicher werden. Es ist kein Zufall, dass bei den Anti-Regierungs-Aktionen der Sozialisten, abseits der großen Proteste, auch russische Fahnen zu sehen waren. “
Regierung versteht die Beweggründe nicht
Die als Coronaviruspaket verabschiedeten Sozialmaßnahmen - darunter eine Rentenerhöhung um umgerechnet 25 Euro und eine um drei Monate verlängerte Arbeitslosenhilfe - werden die Demonstranten nur weiter anstacheln, glaubt Dnevnik:
„Der Protest ist politisch und die Regierung liest ihn als sozial. Der Protest fordert den Rücktritt der Regierung und sie antwortet mit Sozialleistungen. Die Patrioten [Borissows Koalitionspartner] boten dem Premierminister diese ungeschickte Interpretationskrücke an und er nahm sie dankend als rettenden Strohhalm an. … Ob die vorsorglich für die Wahlen [im Frühling 2021] zurückgelegten Steuergelder die Protestierenden jetzt einschläfern oder zusätzlich aufwiegeln? Die Antwort wird es auf der Straße geben.“
Nur Rücktritt kann die Gemüter beruhigen
Mit einer kosmetischen Umstrukturierung des Kabinetts wird Borissow diesmal nicht durchkommen, glaubt Duma:
„Borissows altbekannter Trick, durch Entlassungen von anderen Politikern seine eigene Haut zu retten, wird diesmal nicht durchgehen. Zehntausende Menschen in verschiedenen Städten des Landes fordern den Rücktritt der Regierung. Sie sind angewidert von der Arroganz Borissows und seiner Bande, ihren Diebstählen, ihrer Vulgarität und ihrer Zügellosigkeit. Und was bietet er ihnen? Eine Pro-forma-Umstrukturierung des Kabinetts, ohne etwas an der Regierungsweise zu ändern.“
Blind und taub gegenüber jeder Kritik
Der Unterschied zu früheren Protesten besteht darin, dass die Demonstrierenden diesmal keine sozialstaatlichen Forderungen stellen, sondern den Rücktritt der Regierung verlangen und Strafverfolgung für diejenigen, die ihre Macht missbraucht haben, erklärt Duma:
„Borissow scheint nicht zu verstehen, dass es dies keine sozialen Proteste sind. Diesmal wollen die Leute nur eines - seinen Rücktritt. … Es ist vorbei, Borissow! Sie waren blind und taub gegenüber allen Warnungen, dass Sie Bulgarien gegen die Wand fahren. Es ist an der Zeit, Verantwortung für die Gräueltaten zu übernehmen, die Bulgarien zum ärmsten und rückständigsten Land der EU gemacht haben.“
Pro-Europa-Linie als Deckmantel für Korruption
Artem Filipenko vom National Institute for Strategic Studies analysiert in Ukrajinska Prawda die politische Situation in Bulgarien:
„Sie lässt sich mit der in einigen anderen osteuropäischen Ländern vergleichen, wo Korruption ebenfalls politisch gefärbt ist: Formal geht es um eine Auseinandersetzung zwischen Machtzentren, wo sich eine Seite proeuropäisch gibt, die andere mehr Sympathien für den Osten zeigt. Tatsächlich dient der Positionsbezug zugunsten Europas oft als Deckmantel eines korrupten Systems. Die andere Seite reklamiert für sich, gegen die Korruption zu kämpfen – will aber tatsächlich auch nur mehr Macht und Zugang zu den Finanzströmen. … Vorgezogene Wahlen werden die Situation kaum radikal verändern: Umfragen zeigen, dass die Partei Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens (Gerb) [von Präsident Borissow] noch immer mit der Sympathie der Wähler rechnen kann.“
Jetzt oder nie
Die Bulgaren haben gerade die seltene Gelegenheit, die korrupte Elite zu entmachten, schreibt Sega:
„Was im Moment auf den Straßen von Sofia und mehreren anderen Großstädten des Landes passiert, wird mit Sicherheit in die Geschichte eingehen - entweder als erfolgreicher Versuch des Souveräns, sich die Macht über seinen Staat zurückzuholen, oder als wissenschaftlicher Beweis dafür, dass ein unfähiges, dreistes und kriminelles Gesindel sich so stark an die Macht klammern kann, dass man es nicht mal mit einer Kanone wegbomben kann. Nun heißt es: Jetzt oder nie! Wenn es diesmal nicht klappt, wird der nächste Versuch frühestens in sieben bis zehn Jahren kommen. Falls bis dahin überhaupt noch jemand in Bulgarien geblieben ist.“
Wir können nicht getrennt erfolgreich sein
Eine Alternative zu Borissow wird sich finden, meint Wesselin Stojnew in einem Beitrag, den Dnevnik vom bulgarischen Dienst der Deutschen Welle übernommenen hat. Zunächst komme es aber darauf an, den Protest zusammenzuhalten:
„Solange das gemeinsame Ziel der Protestierenden der Rücktritt der Regierung und des Generalstaatsanwalts [Iwan Geschew] ist, müssen sie Einigkeit demonstrieren. Wenn wir unseren Staat zurückgewinnen wollen, können wir nicht getrennt erfolgreich sein. … Unabhängig davon, wer in Zukunft regieren wird, muss eine verfassungsmäßige Mehrheit zustandekommen, um sicherzustellen, dass kein neuer Geschew kommt. Sowohl um die Regierung zu stürzen, als auch um nach den Wahlen einen entscheidenden Wandel möglich zu machen, bedarf es jetzt einer breiten Koalition der Protestierenden, auch wenn daraus noch keine Regierungskoalition entsteht.“