Biden holt Harris ins Boot - eine kluge Wahl?

In einer High School in seiner Heimatstadt Wilmington hat Trump-Herausforderer Joe Biden am Mittwoch seine Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin vorgestellt: Senatorin Kamala Harris. Beide machten Donald Trump für die vielen Krisen im Land und insbesondere die hohe Zahl an Corona-Toten verantwortlich. In Europas Kommentarspalten weckt Harris‘ Nominierung teils hohe Erwartungen, die andere Journalisten sofort dämpfen.

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Népszava (HU) /

Republikaner wähnen sich noch im Jahr 1970

Für Népszava zeugt Harris' Nominierung von einem tiefgreifenden Wandel:

„Weiße Menschen werden in den USA in den nächsten 20 bis 25 Jahren zur Minderheit werden. ... Schon 2008 haben dieser demografische Wandel und die daraus folgende Wahrnehmungsveränderung die Präsidentschaft Barack Obamas ermöglicht. Und jetzt ist es deswegen selbstverständlich, dass die Demokraten mit einer halb indischen, halb afroamerikanischen, weiblichen Vizepräsidentenkandidatin in die Wahl ziehen. Im Grunde seltsam ist es hingegen, dass die Republikaner es mit zwei weißen Männern versuchen - als ob wir noch immer das Jahr 1820 oder 1970 schreiben würden. Falls die USA ein Land bleiben wollen, wo nur das Verdienst zählt, müssen immer mehr Frauen und nicht-weiße Menschen Führungspositionen besetzen.“

Deutsche Welle (RO) /

Das Fähnchen im Wind

Kamala Harris glänzt nicht gerade durch Prinzipientreue, findet der Rumänische Dienst der Deutschen Welle:

„Die nominierte US-Vizepräsidentschaftskandidatin macht häufig unbewiesene und unbegründete Anschuldigungen. Zum Beispiel gegen ihren neuen Chef, Biden, den sie einst unerbittlich einer rassistischen Vergangenheit bezichtigte. Ebenso hat sie ihm eine Reihe von Fällen sexuellen Missbrauchs vorgeworfen. Und jetzt, wo es ihr opportun erscheint, verzichtet sie darauf, giftig und polemisch zu sein. Doch ideologischer Relativismus und Doppelzüngigkeit sind kein Zeichen von Besonnenheit und Pragmatismus. … Kann man die feministischen Prinzipien der Demokratischen Partei noch ernstnehmen?“

taz, die tageszeitung (DE) /

Das dürfte für den Sieg reichen

Gerade der Umstand, dass Harris schwer einzuordnen ist, dürfte sie für Joe Biden interessant gemacht haben, vermutet die taz:

„Er kann nur gegen Trump gewinnen, wenn auch der progressive Flügel der demokratischen Wähler*innenschaft ihn unterstützt und – anders als 2016 – tatsächlich wählen geht. Er darf aber gleichzeitig nicht die Wechselwähler*innen in jenen Swing States abschrecken, die 2016 den Sieg für Trump garantierten. Mit Kamala Harris ist für alle etwas dabei: Der historische Schritt der ersten Schwarzen Frau als Vizekandidatin und sowohl progressive als auch neoliberale Aspekte in ihrer Karriere. Das mag, so ist zu hoffen, für die Wahl im November reichen.“

Telegram (HR) /

Schon jetzt ein Meilenstein

Einen historischen Schritt für die USA erkennt Telegram.hr:

„In dem Moment, in dem über das Überleben der Nation, den Fortbestand der Demokratie und die Zukunft des amerikanischen Projektes entschieden wird, bringt Kamala Harris die Erfahrungen afroamerikanischer Frauen ein, die unter den furchtbaren Umständen des amerikanischen Rassismus, des Sexismus und der Diskriminierung überlebt haben. Joe Biden hat sich mit dieser Wahl in einen der wichtigsten US-Politiker der letzten 50 Jahre verwandelt: Er verwandelt die Partnerschaft, die der erste Schwarze Präsident einst mit ihm eingegangen ist, in eine Partnerschaft, die zur ersten Präsidentin und zur ersten schwarzen Präsidentin führen könnte.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Running Mates entscheiden keine Wahl

Die Bedeutung der Vizepräsidentschaftskandidatur relativiert die Neue Zürcher Zeitung:

„Die Auswahl des sogenannten 'Running Mate' gehört zu den meistüberschätzten Dingen in amerikanischen Wahlkämpfen. ... In Wirklichkeit gibt es ... kaum Hinweise darauf, dass sich die Amerikanerinnen und Amerikaner vom zweiten Namen auf dem Stimmzettel beeinflussen lassen. ... In diesem Jahr dürfte die Nummer zwei sogar noch weniger wahlentscheidend sein als sonst – der 3. November hat in erster Linie den Charakter eines Referendums über Trump und dessen Amtsführung. ... Die Bedeutung von Vizepräsidenten liegt nicht in ihrer Rolle als Wahlhelfer, sondern in der Tatsache, dass viele von ihnen irgendwann selber im Oval Office landen.“

The Times (GB) /

Ein opportunistischer Wendehals

Harris sollte nicht zu sehr als Hoffnungsträgerin gefeiert werden, warnt The Times:

„Es gibt kaum ein Thema, zu dem Harris nicht eine Meinung besaß, mit der sie auf maximale Unterstützung in ihrem Wahlkreis abzielte, um sie dann einfach ins Gegenteil zu verkehren, sobald ein größerer Wählerkreis in Sicht war, der eine andere Meinung abverlangte. Dies mag den Demokraten im Zeitalter Donald Trumps kaum schaden, da dieser auch nicht gerade für Konsequenz in seinen politischen Ansichten bekannt ist. Aber es ist unwahrscheinlich, dass es denjenigen hilft, die behaupten, dass die Welt nach Trump eine sein wird, in der Authentizität und Prinzipientreue über nackten und zynischen Ehrgeiz triumphieren werden.“

Habertürk (TR) /

An progressiven Strömungen vorbei

Große Veränderungen sind mit diesem Gespann nicht zu erwarten, bedauert Habertürk:

„Die USA erleben eine ernstzunehmende linksprogressive Welle. Dank dieser finden Vorschläge wie eine staatliche Krankenversicherung, kostenlose staatliche Universitäten, die Zerschlagung von Technologieunternehmen und höhere Steuern für große Unternehmen Eingang in die Mainstream-Politik. Die Antwort von Kamala Harris auf solch revolutionäre Programme war: 'Ich will das Land nicht neu errichten.' Mehrfach wechselte sie hin und her zwischen progressiver Politik und einem Mittelweg. ... Auch Biden ist ein Mann des Mittelwegs. Immerhin haben die beiden es geschafft, einen Teil dieser linksprogressiven Bewegung aufzunehmen. ... Das ist nicht das Team, das die USA wirklich brauchen - aber ein anderes Team gibt es nun mal nicht.“