Ukraine: Selenskyj will Verfassungsgericht auflösen
Nach einem umstrittenen Urteil des ukrainischen Verfassungsgerichts ist Präsident Selenskyj der Kragen geplatzt. Das Gericht hatte die Befugnisse der Korruptionsbekämpfungsbehörden beschnitten und die Einsicht in Vermögensdeklarationen von Amtsträgern untersagt. Selenskyj sieht pro-russische Kräfte dahinter und will das Gericht nun auflösen. Ein Befreiungsschlag in der Not oder ein No Go in Sachen Gewaltenteilung?
Höchstgericht hat seine Legitimität verspielt
An diesem Gericht liegt so vieles im Argen, dass Selenskyj keine andere Wahl hatte, analysiert Financial Times:
„Das Justizsystem der Ukraine leidet unter Richtern, die den Interessen zahlender Oligarchen dienen. Die beiden obersten Richter des Verfassungsgerichts, das niemandem Rechenschaft schuldig ist, wurden vom 2014 gestürzten, pro-russischen Präsidenten Viktor Janukowitsch ernannt. Mit seinem Urteil von vergangener Woche verlor das Gericht seine Legitimität. Gegen einige Mitglieder des Höchstgerichts laufen Untersuchungen wegen angeblicher Verstöße gegen Offenlegungspflichten. Es gibt also einen offensichtlichen Interessenkonflikt. Das Gericht lieferte kein klares juristisches Argument, um seine Schlussfolgerungen zu stützen. Es verteidigt die Verfassung nicht mehr, es bemächtigt sich ihrer.“
Totalitäre Versuchung
Der Analyst Cristian Unteanu zeigt sich in Adevărul über das Vorgehen des Präsidenten entsetzt:
„Kommt Selenskyjs Entscheidung völlig überraschend oder ist sie als Teil eines breiteren Trends in den mittel- und osteuropäischen Ländern zu sehen, wo die Versuchung, alle Hebel der Macht in einem Staat zu ergreifen, offenbar nie verschwunden ist? So etwas haben wir einst die totalitäre Versuchung genannt, andere sprechen von der Mentalität von Völkern, die sich nie vollständig von den Erinnerungen an die Praktiken befreit haben, die ihnen die kommunistischen Machtnetzwerke auferlegt hatten. Wenn die Zeiten schwer sind und das Geld knapp, wenn Oligarchen dem Staat Druck machen, warum dann nicht durch einen Coup die Richter loswerden, wie es in Polen geschehen ist, oder, wie jetzt in der Ukraine, gleich das gesamte Verfassungsgericht?“
Krise spielt Russland in die Hände
Bei allem Unmut über das Gericht wären unbedachte Schritte jetzt enorm schädlich, warnt Ex-Premier Alexej Hontscharuk in nv.ua:
„Weder die Gesellschaft noch die internationalen Partner trauen dem Verfassungsgericht, das ist unbestreitbar. Dessen Neustart ist für die weitere Existenz der Ukraine als Rechtsstaat sehr wichtig. Und dieser Neustart muss zeitnah vonstattengehen. Man muss jedoch darauf achten, dass er streng im gesetzlichen Rahmen stattfindet. … Ein Rechtschaos in der Ukraine und die Untergrabung der staatlichen Institutionen ist genau das Ziel des Kremls. Einfacher ausgedrückt, Moskau will eine Situation, in der der Präsident der Ukraine, das Parlament und das Verfassungsgericht unter sich klären, wer von ihnen am verfassungstreusten ist und dabei gegenseitig ihre Entscheidungen ignorieren oder annullieren.“