Nach Neuaufteilung: Wie wird Bergkarabach stabil?
Nach dem Waffenstillstand in Bergkarabach muss Armenien am Sonntag ein erstes Gebiet an Aserbaidschan übergeben. Das Abkommen sieht vor, dass beide Kriegsparteien jene Gebiete behalten dürfen, in denen sie derzeit die Kontrolle haben, und ist für Armenien mit großen Verlusten verbunden.
Hier wird mit zweierlei Maß gemessen
In Obosrewatel beklagt Azer Hudiev, ehemaliger aserbaidschanischer Botschafter in Kiew, eine einseitige Parteinahme in Europa:
„Einige politische Kreise des Westens machen einen diplomatischen Fehler, wenn sie Baku ethnische Säuberungen in Bergkarabach in den frühen 1990er Jahren vorwerfen. ... Die Armenier vertrieben zwischen 1989 und 1993 Aserbaidschaner aus ihren heimatlichen Gefilden in Armenien und Karabach. Infolgedessen sind 98 Prozent der Bevölkerung Armeniens ethnische Armenier. Gleichzeitig leben in Aserbaidschan – außerhalb von Bergkarabach – Zehntausende Armenier. Da die Aserbaidschaner diese Realität kennen, sehen sie die Neutralität der westlichen Länder bei der Lösung des Konflikts skeptisch. … Von Armenien verlangen die westlichen Demokratien nicht, die Rückkehr von Hunderttausenden Aserbaidschanern in ihre Heimatorte sicherzustellen.“
Jetzt bloß kein Sturz Paschinjans
Weil sie die Waffenstillstandsbedingungen als Niederlage sehen, fordern viele Armenier einen Rücktritt von Premier Nikol Paschinjan. Aus Sicht von Radio Kommersant FM wäre das ein fatales Eigentor:
„Wenn er morgen von einer revolutionären Menge oder der kriegerisch gestimmten Opposition, die die Vereinbarungen für eine Kapitulation hält, gestürzt wird, ist der Waffenstillstand in Gefahr. Doch eine Wiederaufnahme der Kämpfe in der aktuellen Situation würde mit einer Katastrophe für Armenien enden. ... Auch die russischen Friedenstruppen in Karabach könnten dann in Gefahr geraten. Das wäre absolut unerträglich für Moskau, das wiederum Armeniens letzter und effektivster Schutzschild ist. Deshalb darf man Populisten, die versprechen, den Krieg wieder aufzunehmen und die verlorenen Gebiete zurückzuerobern, erst gar nicht in die Nähe der Macht kommen lassen. “
Region muss über sich selbst bestimmen dürfen
Den Armeniern in Berg-Karabach kann nur eine Lösung ein Leben ohne ständige Bedrohung bieten, argumentiert eine Gruppe von Politikern, Künstlern und Akademikern in Le Temps:
„Wir haben den von Baku und Ankara geführten kriminellen Feldzug gesehen und es ist absolut klar, dass Armenier unter der Souveränität Bakus nicht in Sicherheit leben können. Für solche Fälle gibt es ein Konzept, das seit Ende des Zweiten Weltkriegs mindestens zwei Mal - im Kosovo und in Osttimor - angewandt wurde: die Abtrennung als Lösung. Eine Bevölkerung, die von Genozid oder ethnischer Säuberung durch den Staat bedroht ist, von dem sie abhängt, ist legitimiert, als letzten Ausweg im Namen ihres Überlebens und ihrer Sicherheit ihr Recht auf Selbstbestimmung zu beanspruchen. Wenn sich ein Volk je in solch einer Situation befand, dann sind es derzeit die Karabach-Armenier.“
Freie Städte für Karabach!
Der Philosoph Bernard-Henri Lévy fordert in La Repubblica, wichtige armenisch bevölkerte Orte zu Freien Städten zu erklären:
„Vor einem Jahrhundert erfand der Völkerbund das Statut der 'Freien Stadt Danzig'. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Vereinten Nationen dieses Statut für Triest erneut angewendet. Warum sollte man dies nicht mit Bergkarabach tun? Warum erklärt Frankreich Stepanakert und Schuschi nicht zu 'Freien Städten'? Warum sollte ihre Freiheit nicht durch eine internationale Truppe garantiert werden? Das wäre eine Geste. Und wenn dem Beispiel Frankreichs andere Staaten folgen würden, wäre dies der Akt einer Europäischen Union, die ihre Werte über ihre Interessen stellt.“