Waffenruhe in Bergkarabach: Erfolg für den Kreml?
Russland, Armenien und Aserbaidschan haben einen Waffenstillstand für Bergkarabach vereinbart. Darin spiegelt sich wider, dass Aserbaidschan vor Moskaus Intervention auf einen militärischen Sieg zusteuerte: Es behält die bisher eroberten Gebiete und bekommt zusätzlich alle armenisch kontrollierten Grenzprovinzen zu Bergkarabach zurück. Europas Presse interessiert sich insbesondere für die Rolle Russlands.
Armenien ist wieder unter Kontrolle
Für Putin war der Karabach-Krieg in mehrerer Hinsicht erfolgreich, analysiert der Publizist Arkadiy Babchenko in NV:
„Mit Hilfe von Aserbaidschan hat er [Armeniens Premier] Paschinjan entmachtet. Dieser wird jetzt ausschließlich als Verräter wahrgenommen, von dem sich alle distanzieren, obwohl weder er noch Armenien eine Wahl hatten. … Die demokratische Revolution ist nun absolut belanglos geworden. Das gleiche gilt für Annäherungsversuche an Europa. Und das für eine sehr lange Zeit. … Armenien ist zurückgeholt und Putin hat einen weiteren eingefrorenen Konflikt mit eigenen Friedenstruppen bekommen. Er erhielt ein eigenes Militärkontingent auf dem Territorium eines anderen souveränen Landes, denn jetzt ist das russische Militär de facto auch in Aserbaidschan.“
Russland gilt nichts mehr im postsowjetischen Raum
Snob sieht das Geschehen als Fiasko für die russische Außen- und Sicherheitspolitik:
„Es ist eine Schande, selbst wenn man von der neoimperialen Kreml-Logik ausgeht, wonach der postsowjetische Raum eine 'privilegierte Interessenzone Russlands' ist, wie es unser früherer Präsident Medwedew 2008 nach der Einnahme Abchasiens und Südossetiens so elegant formulierte. Angesichts des Geschehens muss doch jeder interessierte Spieler, vorrangig die Türkei und China, daraus schließen, dass man in dieser Zone kämpfen und Kriege gewinnen kann, ohne dass Moskau etwas unternimmt. Und dass ein Bund mit Russland niemandem Schutz vor Unannehmlichkeiten garantiert. ... Die von Russen ausgebildete armenische Armee unterlag den von Türken und Israelis vorbereiteten aserbaidschanischen Streitkräften.“
Moskau und Ankara verfolgen gemeinsame Ziele
Auch die Türkei erlangt mehr Einfluss im Kaukasus, analysiert der Geopolitik-Experte Christian Makarian in Le Figaro und erläutert, warum Putin Erdoğan dies zugesteht:
„Putins und Erdoğans strategische Interessen konvergieren, auch wenn jeder in Syrien und Libyen seine eigene Agenda verteidigt: Es geht vor allem darum, den Westen tiefgreifend zu schwächen und seine Werte herabzuwürdigen. Der Waffenstillstand vom 9. November ist eine unerträgliche Zerlegung für die betroffenen Bevölkerungen. Zudem zementiert er den Ausschluss des Westens aus sämtlichen diplomatischen Prozessen im Kaukasus.“
Diesmal stiftet Putin Frieden
Für die Badische Zeitung ist es in diesem Fall ein Glück, dass Russland in einem Konflikt auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion interveniert:
„Denn ohne den Einsatz russischer Friedenstruppen hätte in der zwischen Armeniern und Aserbaidschanern umkämpften Kaukasusregion Berg-Karabach ein noch größeres Blutvergießen gedroht. ... Nun sollen russische Soldaten dafür sorgen, dass die Waffen schweigen und auch künftig Armenier in ihren traditionellen Siedlungsgebieten in dem völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden Landstrich leben können. Für Armenien ist der Verlust von Teilen Berg-Karabachs und der in den 1990er Jahren besetzten angrenzenden Gebiete bitter, auf die sie freilich nie einen legitimen Anspruch hatten.“
Moskau und Ankara dominieren die Weltpolitik
Am Beispiel von Bergkarabach sieht man erneut, wer geopolitisch den globalen Ton angibt, konstatiert Le Temps:
„Russland und die Türkei sind hier die Sieger und prägen die diplomatische Landschaft von morgen, zulasten des Westens. ... Die beiden Länder sind praktisch unzertrennlich geworden. Zugegebenermaßen stehen sie oft auf entgegengesetzten Seiten. Aber ihre Führer haben eines gemeinsam: ihre zunehmend frontale Ablehnung des Westens. Die Vorgehensweise ist inzwischen erprobt und hat sich bewährt. Moskau und Ankara krallen sich Gebiete, die durch den Rückzug der USA und die Dysfunktionalität Europas aufgegeben wurden; sie nutzen alle verfügbaren Mittel, um sich selbst in den Mittelpunkt des Spiels zu stellen; dann sabotieren sie den ehemals multilateralen Rahmen und ersetzen ihn durch eine maßgeschneiderte diplomatische Struktur.“
Dank der Türkei zu neuem Gleichgewicht
Das Abkommen und die neue Gebietsverteilung sind für die Region eine große Chance, freut sich Daily Sabah:
„Aserbaidschan ist der Sieger, die Türkei der Wegbereiter dafür und Russland die dominierende geopolitische Macht. ... Die Türkei lieferte Baku moderne Waffen und strategische Unterstützung, was wesentlich zum Selbstbewusstsein Aserbaidschans und seiner Kampfkraft vor Ort beigetragen hat. Die Bedingungen des Abkommens können der Region nun neue Möglichkeiten eröffnen. Solange die Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen Russland und der Türkei fortgesetzt wird, kann die Krise bewältigt werden. Das Waffenstillstandsabkommen bietet die notwendigen Voraussetzungen für eine langfristige und umfassende Lösung des Bergkarabach-Problems auf fairer Basis und im Einklang mit den Interessen der Bevölkerung beider Länder.“
Armenischer Premier in Bedrängnis
Für Armeniens Noch-Premier Paschinjan dürfte die stärkere Abhängigkeit von Russland nach diesem Waffenstillstand kein gutes Omen sein, analysiert Ukrajinska Prawda:
„Während der armenische Premierminister in der Ukraine den Ruf eines Politikers hat, der den prorussischen Kurs Armeniens weiterführt (z.B. unterstützt Armenien weiterhin Russland in allen internationalen Organisationen und hat sich in Resolutionen zur Krim in der Uno enthalten), hat man da in Moskau eine andere Sichtweise. Aus Sicht des Kremls hat Paschinjan mindestens drei 'Todsünden' begangen: Er kam durch eine Revolution an die Macht. Er beschränkt die Aktivitäten westlicher Nichtregierungsorganisationen in Armenien nicht. Und er ließ mit dem armenischen Ex-Präsidenten Robert Kotscharjan einen persönlichen Freund Putins verhaften.“
Paschinjan opfert sein Amt für sein Volk
Dem armenischen Premier gebührt Respekt für seine Entscheidung, schreibt der russische Oppositionspolitiker Dmitri Gudkow in newsru.com:
„Paschinjan hat die einzige in dieser Lage mögliche Entscheidung getroffen: er hat kapituliert. Diese Entscheidung rettet jetzt Leben - das einzige, was wirklich zählt. ... Und deshalb war sie einfach, auch wenn sie schmerzhaft für das Land ist und Paschinjans politische Zukunft vernichtet. ... Paschinjan kam an der Spitze einer unglaublichen Unterstützungswelle an die Macht. Heute hat er sie annulliert. Er hat sein ganzes politisches Kapital für eine einzige Entscheidung eingetauscht, die man ihm kaum verzeihen wird, die aber unabdingbar war. Putin, Lukaschenka und andere Diktatoren würden so etwas nie tun: Sie klammern sich an die Macht bis zum letzten Mann.“
Armenien wird noch ein bisschen russischer
Die langjährige Schutzmacht macht sich in Armenien breit und die Welt sieht untätig zu, empört sich Rzeczpospolita:
„Eine weitere russische Basis wird in Bergkarabach eingerichtet, diesmal im Rahmen einer Friedensmission. Das bedeutet, dass Armenien nach Syrien das militärisch am stärksten von Russland abhängige Land geworden ist. Es geht aber nicht nur um die Anwesenheit der russischen Armee. Russland hat fast alle Schlüsselsektoren der armenischen Wirtschaft übernommen, russische Unternehmen kontrollieren dort Gaspipelines, sind die einzigen Treibstofflieferanten, verwalten Energienetze, sogar die Eisenbahn wurde einem russischen Unternehmen übertragen. Aber kann sich Armenien gegen diese wirtschaftliche und militärische Kolonialisierung wehren? Interessiert sich außer Putin und Erdoğan jemand (z.B. im Westen) für diesen Teil der Welt?“