Mordkomplott gegen Nawalny enthüllt
Mehrere Medien haben eine umfangreiche Recherche zum Ablauf des Giftanschlags auf den russischen Oppositionellen Nawalny veröffentlicht. Demnach hat seit 2017 eine Gruppe von acht namentlich genannten Geheimdienstlern des FSB den Anschlag vorbereitet. Die Beteiligten wurden mithilfe von Daten aus Mobilfunkverbindungen und Passagierlisten identifiziert. Was sagt die Enthüllung über Russland aus?
Russlands Agenten sind halt nicht die Hellsten
Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kulbaka sucht in VTimes nach einer Erklärung, warum russische Geheimagenten bei heiklen Missionen so oft auffliegen:
„Die besten Uniabsolventen gehen ins Ausland, zu internationalen Konzernen, auf gute Doktorandenstellen oder wenigstens zu großen Staatskonzernen. Den Geheimdiensten bleibt das bei weitem nicht beste Humanmaterial. ... Doch selbst innerhalb dieses Materials gibt es Hierarchien: Niemand wird einen aussichtsreichen Spezialisten auf eine gefährliche Mission schicken ... Deshalb sind bei jedem Geheimdienst Pannen unvermeidlich: Ihnen liegt der menschliche Faktor zugrunde - und noch mehr die schlechte Vorbereitung der Ausführenden. Und je stärker die Staatsorgane wachsen und je mehr Leute sie in ihren Orbit ziehen, umso schlechter wird zwangsweise die Qualifikation der einzelnen Erfüllungsgehilfen.“
Zeit für Sanktionen gegen Moskau
Der Anschlag auf Nawalny muss für Russland endlich Konsequenzen haben, fordert Ilta-Sanomat:
„Spätestens jetzt müssen Finnland und die Europäische Union aufwachen und erkennen, dass Moskau Staatsterror betreibt und auch nicht davor zurückschreckt, politische Gegner zu foltern oder zu töten. Am Donnerstag gibt Putin eine große Pressekonferenz. ... Auf große Geständnisse oder Gewissensbisse braucht aber man nicht zu warten. Die nach westlichem Rechtsverständnis und dem Konsensprinzip handelnde Europäische Union und selbst die ganze internationale Gemeinschaft können Putin nicht stoppen und darauf zählt er. Dennoch müssen jetzt rasch effektivere Sanktionen verhängt werden, denn Russlands Anschläge enden nicht hier.“
Die Illusion realer Politik zerplatzt
Der Fall zeigt, wie sich der Spielraum für Oppositionsaktivitäten weiter verkleinert hat, schreibt Russland-Experte Mark Galeotti in The Moscow Times:
„Bislang gehörte zur Staatsform die Aufrechterhaltung der Illusion realer Politik - weniger in Form der Zombie-Parteien der Systemopposition, als in gewissen lokalen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Dies ist weder im Stalinismus und nicht einmal in einem Einparteiensystem wie in China möglich. ... Vielleicht wurde jetzt zum letzten Tropfen, dass man glaubte, Nawalny bekäme Hilfe von westlichen Geheimdiensten und könne deshalb als 'Verräter' betrachtet werden. Aber vielleicht verschob sich auch nur die rote Linie für die erlaubte Oppositionsaktivität, die Nawalny als geschickter Akteur bislang immer beachtet hatte (indem er nie Putin und dessen Familie durchleuchtete), so dass er zum Abschuss freigegeben wurde.“
Privatermittler lassen Big Brother alt aussehen
Nowaja Gaseta sieht in den Enthüllungen eine neue Qualität von digitaler Transparenz:
„Linke und die Snowdens dieser Welt haben uns die Ohren vollgeheult über den Großen Bruder und die schlimme Digitalwelt, in der der Staat uns alle überwacht. Doch die Recherche des grandiosen Christo Grozev von Bellingcat wie auch frühere Bellingcat-Ermittlungen zum Boeing-Abschuss und die Recherchen von Chodorkowski zu den Journalistenmorden in Afrika zeigen uns das Gegenteil: Dank der Digitalrevolution hat die Gesellschaft - und nicht der Staat - die Möglichkeit bekommen, Verbrechen aufzuklären, was vor zehn oder zwanzig Jahren noch unmöglich war. Besonders hübsch ist, dass dies ohne Russlands Gesetz zur Telefondaten-Pflichtspeicherung und seine Big-Data-Händler in Uniform nicht ginge.“