Nawalny: Kaum zurückgekehrt, schon festgenommen
Nach der Genesung von einem Giftanschlag ist Kreml-Kritiker Alexej Nawalny am Sonntag wie angekündigt aus Berlin nach Russland zurückgekehrt. In Moskau wurde er noch vor der Passkontrolle am Flughafen festgenommen. Ein Gerichtstermin wegen angeblicher Verstöße gegen Bewährungsauflagen und Meldepflichten wurde erst für Ende des Monats angesetzt. Wie klug war die Rückkehr - und Moskaus Reaktion?
Eine kluge Führung hätte ihn ignoriert
Der liberale Pskower Regionalpolitiker Lew Schlosberg (Jabloko) findet in einem Gastbeitrag auf Echo Moskwy, Moskau habe sich mit der Festnahme Nawalnys wenig souverän gezeigt:
„Wäre die russische Staatsmacht klug, hätte sie die Rückkehr Nawalnys einfach ignoriert, ja boykottiert. Ein russischer Bürger ist nach Beendigung seiner medizinischen Behandlung aus Deutschland zurückgekehrt. Ja und? Desinteresse wäre ein effektiverer Schritt gewesen als all die Drohungen, die sie Nawalny in den Weg gelegt haben. Aber wir sehen heute an der russischen Staatsspitze keine Leute, die zu rationalen Entscheidungen fähig wären. ... Die Art des Empfangs Nawalnys in Moskau ist in diesem System eine Entscheidung auf der Ebene Putins. Umgesetzt wird sie vom Block des Machtapparates. Einen Block für Innenpolitik gibt es in Russland hingegen nicht. “
Putins Angst wächst
Alles spricht dafür, dass Nawalny für den Kreml nun eine ernstzunehmende Gefahr darstellt, argumentiert der Publizist Iwan Jakowyna in nv.ua:
„Alexej Nawalny ist Putins Fluch geworden. Putin spricht weder seinen Nachnamen aus noch sagt er etwas zu dessen Tätigkeit. Und er wollte ihn sogar heimlich töten. Dies zeigt, dass Putin schreckliche Angst vor ihm hat. … Dass Nawalny in Deutschland war, war [für Putin] okay. In der Geschichte waren politische Emigranten für die Machthaber immer ungefährlich. Doch wenn ein politischer Emigrant, wie Lenin damals, zurückkehrt, wird er zur echten Bedrohung.“
Im Exil hätte er mehr ausrichten können
Das Handelsblatt dagegen bezweifelt, dass die Rückkehr der klügste Schritt war, um Putin gefährlich zu werden:
„Im russischen Wahljahr 2021 ist Nawalny eine ernst zu nehmende Gefahr für die Herrschenden. Dies ist er sicher auch als Isolationshäftling in Russland. Denn Nawalnys Schicksal hinter Gittern würde im Falle einer Verurteilung lange einen dunklen Schatten auf seinen Gegner Wladimir Putin werfen, der sich dann offensichtlich nicht anders zu helfen wusste. Doch wäre ein aus dem Ausland heraus seinen Youtube-Kanal 'Navalny live' mit ebenso beißender wie mit Fakten bestens belegter Kritik füllender, in Freiheit lebender Nawalny für die Opposition sicher noch wichtiger. Und über das Internet kann Nawalny heutzutage in der (k)alten Heimat viel mehr ausrichten als ein Solschenizyn früher im Exil.“
Kein Lenin
Die Russen kämpfen noch nicht für Nawalny, kommentiert Rzeczpospolita:
„In den vergangenen Tagen wurde er mit Lenin verglichen, der in einem Panzerzug von der Schweiz über Deutschland nach Petrograd [das heutige St. Petersburg] zurückkehrte und später Führer des bolschewistischen Russland wurde. Das Problem an diesem Vergleich ist, dass Lenin im April 1917 zurückkehrte, nach dem Sturz des Zaren. Nikolaus II. dankte im März ab. Massive Proteste und Streiks der Arbeiter waren bereits im Gange. Putin hat nicht die Absicht abzudanken und das wird bis mindestens 2024 so bleiben. Es gibt auch keine Demonstrationen Tausender vor den Kremlmauern, die den inhaftierten Oppositionsführer verteidigen. Die Arbeiter streiken nicht, Öl und Gas fließen in den Westen. Ob sich das wohl ändern wird, wenn Nawalny für einige Jahre im Arbeitslager landet?“
Russlands Reanimation hat begonnen
Politologe Sergej Medwedew erkennt schon jetzt eine spürbare Belebung des politischen Lebens in Russland und schreibt in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Post:
„Nawalny ist (un)wirklich cool. Diejenigen, die seine Vergiftung in Auftrag gaben, dachten, dass sie über die Zeit gebieten. Sie haben die Geschichte in Russland eingefroren, uns den ewigen Putin (ob mit oder ohne ihn) beschert und glaubten, sie könnten Nawalny ins Nirwana schicken - wenn schon nicht ins Jenseits, dann wenigstens wie Chodorkowski ins ewige Exil. Doch Nawalny setzt die Uhr wieder in Gang. Er reißt Russland aus dem Tiefkühl-Zustand, aus seinem Neujahrs-Drogenschlaf, aus dem Dauer-Putinismus. Er macht schon aus der Tatsache seiner Rückkehr ein Ereignis, selbst aus dem Ticketkauf. Er zwingt den Kreml, dessen Hardliner und uns alle, Position zu beziehen.“
Alles auf Sieg
Kann Nawalny Putin letztlich zu Fall bringen? Die Frankfurter Rundschau meint dazu:
„Unwahrscheinlich - weil die Machtverhältnisse klar sind. Aber nicht unmöglich - weil das Putin-Regime nichts dazulernt und sich selbst schadet. ... Noch weiß der Geheimdienstler [Putin] die Mehrheit der Menschen im Land hinter sich. Zugleich misstrauen aber die 18- bis 24-Jährigen (51 Prozent) mehr und mehr dem Regime. Darauf setzt Nawalny. Nach seinem Beinahe-Tod macht er mehr denn je den Eindruck, dass er nichts zu verlieren hat. Es ist deshalb kein Zufall, dass Nawalny mit der russischen Fluglinie 'Pobeda' nach Russland zurückkehren will. Es ist eine Ansage: Pobeda heißt Sieg.“
Haft oder Bedeutungslosigkeit
Weil die russische Staatsanwaltschaft wegen des Betrugs mit Spendengeldern ermittelt, wird Nawalny wohl erst einmal in Haft landen, notiert Der Tagesspiegel:
„Aber das weiß er natürlich – und auch, dass er keine andere Wahl hat. Er muss zurückkehren, wenn er in Russland weiter eine politische Rolle spielen will. Im Exil hätte er die schon verloren. Ihm erginge es wie dem früheren Schachweltmeister Garri Kasparow, der in den USA lebt, und Michail Chodorkowski in der Schweiz: Wladimir Putin hat sie erfolgreich kaltgestellt.“