Russland: Weg frei für den ewigen Putin?
Die russische Duma hat am Dienstag für eine Verfassungsreform gestimmt, die den Bürgern im April vorgelegt wird. Eine kurzfristig aufgenommene Klausel erlaubt es Wladimir Putin, die Begrenzung auf zwei Amtsperioden als Präsident zu umgehen: Seine bisherigen Legislaturen sollen schlicht annulliert werden. Putin könnte Russland so bis 2036 führen. Wie das wohl ausgehen wird, fragen Kommentatoren.
Der allmächtige Führer sitzt fest im Sattel
Der Kremlchef reitet auch nach der Reform weiter auf seiner Sympathiewelle in der Bevölkerung, meint der Politikanalyst Dorin Popescu im Nachrichtenportal Ziare:
„Putin hat keine größeren Imageprobleme, die sein eigenes Projekt über kurz oder lang schwächen könnten. Er hat immer noch ein haushohes Rating, das er jederzeit mit einem herannahendem Konflikt verbessern kann, so dass er schnell wieder als 'allmächtiger Führer' wahrgenommen wird. Es gibt auch keine reale Gefahr von Palastrevolten durch Konkurrenten. ... Der Appetit der russischen Bevölkerung auf eine Demokratie ist weiterhin mäßig und es wird auch keine paradigmatischen Veränderungen der in Russland in den letzten Jahrhunderten patentierten politischen und sozialen Konventionen geben.“
Die Propaganda funktioniert – noch
Die Generation Internet erreichen Putins Verkaufsargumente nicht mehr - und das wird Folgen haben, glaubt Kaleva:
„Putin tat am Dienstag in der Duma sein Bestes, Vorbehalte gegenüber dem Vorschlag zu signalisieren. Eine Annullierung früherer Amtszeiten hielt er nur für möglich, wenn das Verfassungsgericht diese genehmigen würde. Es wäre eine historische Überraschung, wenn das Verfassungsgericht einem von der Duma bereits akzeptierten Modell widersprechen würde. … Die Propaganda funktioniert vielleicht bei älteren Russen, aber schlechter bei Jüngeren, die ihre Informationen über die Welt von unabhängigen Internetquellen und internationalen Nachrichtenseiten beziehen. Die Folge ist, dass die Jüngeren nicht mehr daran glauben, Einfluss auf die Gesellschaft nehmen zu können, und langfristig ist das schädlich für das Land.“
Es bleibt ungemütlich
Die neue Dimension von Putins Macht ist eine Herausforderung für Russland selbst, aber auch für dessen Partner, analysiert Le Monde:
„Die in Korruption, Konformismus und Öleinnahmen versunkene russische Wirtschaft ist unter Putins Herrschaft nie in Schwung gekommen. Dass er sich endlich dazu entschließt, aus ihren umfassenden Reserven zu schöpfen, um zu Gunsten der Bürger zu investieren, liegt an seiner sinkenden Popularität. Will er, dass diese Investitionen konkrete Form annehmen, muss er zunächst das verkrustete System reformieren. Die andere Herausforderung betrifft die Partner Russlands: Alle wünschen sich eine Verbesserung der Beziehungen zu Moskau, aber Putin reagiert mit der Blockade der Ukraine, einem Cyberkrieg, Bombardierungen von Krankenhäusern in Syrien, der Lähmung des UN-Sicherheitsrats und der Neuschreibung der Geschichte des 20. Jahrhunderts.“
Auf diese Stabilität würde man gerne verzichten
Noch bis zu 16 Jahre Putin - das ist für Echo Moskwy-Kommentator Anton Orech eine bedrückende Perspektive:
„Nun habe ich also Zukunftssicherheit: Ich weiß, dass es in meinem Land nicht mehr besser wird. Es kann nur schlimmer werden - die Frage ist bloß, wie sehr und wie schnell. In ein paar Jahren wird Russland von einem alten Mann ohne rechten Durchblick geführt werden, hinter dessen Rücken es von seinem Gefolge in Stücke gerissen wird. Für das Land ist das ein Alptraum, der mit einem Aufstand oder einer Revolution enden wird. ... Wir werden noch hundert Mal zu hören kriegen, dass es 'keine Zeit zum Anlaufnehmen' gibt, wir Stabilität brauchen und man in der Furt nicht die Pferde wechselt. Putin hat nicht nur seine Vollmachten verlängert, sondern vor allem dem Land sein Urteil gesprochen.“
Schamlose Vergewaltigung
Russlands Präsident stillt unverfroren seinen Machthunger, bemerkt Der Standard:
„Putin wird wieder zur politischen Jungfrau, seine bisherigen Amtszeiten zählen einfach nicht. Mit keuscher Scham hat das Manöver freilich wenig gemein. Im Gegenteil: Es handelt sich um eine Vergewaltigung der bisher gültigen Verfassung. Wie unverfroren der Kreml dabei vorgeht, ist überraschend. Doch neu ist die Methode keineswegs: Den gleichen Kniff wendete schon der seit 1994 in Weißrussland herrschende Alexander Lukaschenko an, um lästige Begrenzungen in der Verfassung auszuhebeln und seine Amtszeit immer wieder zu verlängern. Lukaschenko gilt im Westen seit längerem als 'letzter Diktator Europas'. Nun hat er im Osten einen würdigen Herausforderer gefunden.“
Der ewige Herrscher erstickt das Land
So rutscht Russland weiter in den Abgrund, urteilt die Neue Zürcher Zeitung:
„Das Land verliert Jahr für Jahr viele seiner besten Köpfe, weil begabte Unternehmer, Forscherinnen und Künstler keine Möglichkeit sehen, in ihrer Heimat ihr Potenzial auszuschöpfen. Seit mehr als einem Jahrzehnt befindet sich die Wirtschaft im Kriechgang – die Folge von fehlender Rechtssicherheit und aussenpolitischen Abenteuern, die das Land in die Isolation geführt haben. Nun wirbt Putin für sich mit dem altbekannten Argument aller Diktatoren: der Stabilität. Doch die Stabilität, die er garantieren kann, gleicht einer Friedhofsruhe.“
Wirtschaft könnte Putins Ära beenden
Dass Putin alle formalen Tricksereien letztlich doch nichts bringen werden, glaubt Publizist Iwan Jakowyna in Nowoje Wremja:
„Am vergangenen Wochenende begann in Russland eine schwere Wirtschaftskrise. Die Aktien russischer Unternehmen verloren 20 Prozent. Der Ölpreis fiel innerhalb weniger Wochen um die Hälfte - von 60 auf 30 Dollar pro Barrel. Gleichzeitig schnellte der Dollarkurs in die Höhe. ... In den Wechselstuben bilden sich Schlangen, weil die Leute ausländische Währungen kaufen wollen. Das Funktionieren des Haushalts scheint nicht mehr gesichert, Russland muss schleunigst die angesammelten Devisenreserven angreifen. Internationale Sanktionen, sinkende Ölpreise, die Coronavirus-Epidemie und eine inkompetente Führung haben einen wahren Sturm für die russische Wirtschaft entfacht. Ich persönlich hege meine Zweifel, dass sie diesen überleben kann.“