Abtreibung de facto verboten: Erneut Demos in Polen
Mehrere Tage in Folge sind in Polen Tausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen das verschärfte Abtreibungsrecht und die Regierung zu protestieren. Am Mittwoch war ein Urteil des Obersten Gerichts vom Oktober im Gesetzesblatt veröffentlicht worden. Demnach sind Abtreibungen künftig nur noch legal, wenn die Gesundheit der Frauen in Gefahr ist oder es durch eine Straftat zur Schwangerschaft kam.
Eine absolut europäische Angelegenheit
Europa scheint nicht kapiert zu haben, was in Polen passiert, ärgert sich Népszava:
„Die meisten polnischen Bürger [die sich von früheren systematischen Grundrechtsverletzungen nicht betroffen fühlten] sehen die Sache heute anders. Denn auch in ihren Familien gibt es wenigstens eine potenziell betroffene Frau - eine Mutter, eine Ehegattin, eine Tochter. Wäre Polen in diese verstörende Lage geraten, wenn man das Gesetz in den anderen EU-Mitgliedstaaten nicht als 'Frauensache' betrachtet hätte? ... Das polnische Abtreibungsgesetz ist weder Frauensache noch eine polnische Angelegenheit - es ist eine europäische Angelegenheit und es betrifft uns alle.“
PiS teilt den Protest in Portionen
Die Regierung hat das Urteil strategisch geschickt veröffentlicht, kommentiert Gazeta Wyborcza:
„Für sie ist es wichtig, den Widerstand gegen die Einschränkung der Abtreibungsrechte zu trennen von dem öffentlichen Aufruhr gegen die Regierung wegen der schlechten Bewältigung der Pandemie. Letzterer wird sich Bahn brechen, sobald die Zahl der Neuinfektionen abnimmt. ... Die zeitliche Trennung ist der einzige Weg, um die zunehmende Protestwelle gegen die PiS-Regierung zu reduzieren. ... Die PiS hat wahrscheinlich so kalkuliert: Die Gegner des Abtreibungsurteils werden jetzt aktiv protestieren. Im Frühling werden die meisten von ihnen immer noch dagegen sein, sich aber nicht mehr aktiv an den Protesten beteiligen, weil sie die Sache abgehakt haben und auf die Wahlen im Jahr 2023 warten.“
Wo ist das Problem?
Alles halb so wild, argumentiert wPolityce.pl:
„Das Verfassungsgericht hat entschieden, dass widrige Lebensumstände der Mutter kein Grund für die Tötung eines Kindes sein können. Schwerwiegende gesundheitliche Komplikationen bleiben jedoch weiterhin ein Grund für die Ärzte, Abtreibungen vorzunehmen. Das Verfassungsgericht erinnerte auch daran, dass es kein Gesetz gibt, das die strafrechtliche Haftung der Mutter für einen Schwangerschaftsabbruch vorsieht. ... All dies führt zu dem Schluss, dass der hysterische Aufschrei der öffentlichen Meinung über den angeblichen Zwang von Frauen zum Heldentum nicht gerechtfertigt ist. Lesen wir die Urteilsbegründung sorgfältig durch. Sie ist nicht so eindeutig, wie manche sie zu zeichnen versuchen.“
Ärzte in der Zwickmühle
Der vermeintliche Spielraum, den das Urteil einräumt, ist höchst problematisch, erklärt hingegen Gazeta Wyborcza:
„In der schriftlichen Begründung stellt das Verfassungsgericht fest, dass eine Abtreibung legal ist, wenn die Defekte eines Fötus die Gesundheit oder das Leben der Frau bedrohen. So bringt die Regierungspartei Ärzte in eine moralische und rechtliche Zwickmühle. ... Sie zwingt nicht nur Frauen zum Heldentum, sondern auch Mediziner. Diese werden Angst haben, ein Risiko einzugehen. Immerhin kann der fanatische Justizminister Zbigniew Ziobro einen Experten finden, der feststellt, dass der Fötus die Gesundheit der Mutter nicht gefährdet hat, und den Arzt beschuldigen, eine illegale Abtreibung durchgeführt zu haben.“